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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Food-Court, und sie bestellte Pommes mit Käsesoße, Chicken McNuggets und einen Salat. Ich trank schwarzen Kaffee und leckte Süßstoff aus meiner Handfläche. Dann bat sie mich, an der Tür Schmiere zu stehen, während sie ihr Mittagessen in die verdreckte Toilette des Einkaufszentrums kotzte.
    Wir fassten uns an den Händen und folgten dem Lebkuchenpfad in den Wald, und von unseren Fingerspitzen tropfte Blut. Wir tanzten mit Hexen und küssten Ungeheuer. Wir verwandelten uns in Wintermädchen, und als Cassie sich davonmachen wollte, zog ich sie in den Schnee zurück, weil ich Angst davor hatte, allein zu sein.
    Ich bleibe bis nach Mitternacht im Wohnzimmer und lese, in der Hoffnung, dass es Cassie in meinem Zimmer zu langweilig wird und sie abhaut. Gerade will ich in den Keller runter, um meine Beinmuskeln bis zum Sonnenaufgang wegzubrennen um zwanzig Minuten lang maßvoll zu trainieren, damit ich danach besser schlafen kann, als Dad die Treppe herunterpoltert. Ich höre, wie der Kühlschrank geöffnet wird, dann einen langen Sprühstoß der Dosenschlagsahne. Die Kühlschranktür fällt zu und Dad kommt aus der Küche.
    »Lia?« Er trägt einen blau-grün karierten Bademantel, der älter ist als ich, eine Schlafanzughose aus Flanell und ein graues T-Shirt mit der Aufschrift ATHLETIC DEPARTMENT . Die Füße sind nackt. Sein zu langes Haar, mehr silbern als schwarz, steht nach allen Seiten ab. Er wirkt wie ein Obdachloser, der an irgendeiner Ecke um Kleingeld bettelt, nur dass er statt einer leeren Gelddose einen Kuchenteller hält, der unter einem Riesenberg Schlagsahne fast verschwindet. Bestimmt die letzten beiden Stücke Kürbiskuchen von Thanksgiving. »Wieso bist du denn noch wach?«, fragt er. »Du solltest längst schlafen.«
    Ich halte Neil Gaimans neuesten Geniestreich in die Höhe. »Ich muss unbedingt noch wissen, wie es ausgeht. Und du?«
    Er setzt sich vorsichtig in den Lehnstuhl, den Kuchenteller auf dem Schoß, und schaufelt sich den ersten Bissen rein. »Ich träume die ganze Zeit von meiner Forschungsarbeit und wecke Jennifer auf, weil ich auf die Matratze einschlage.« Er runzelt die Stirn. »Ich hätte die Finger von dieser Arbeit lassen sollen.«
    »Warum?«, frage ich.
    Er nimmt den nächsten Bissen und kaut. Der Geruch macht es sich neben mir gemütlich, süßer, süßer Kürbis, Schlagsahne, die mir auf der Zunge zergeht Dieser Kuchen ist fast eine Woche alt, und auf der Kruste hat sich bereits schleimiger Schimmel gebildet, von dem ihm schlecht werden wird.
    Er wischt sich einen Klecks Schlagsahne vom Mund. »Ich hatte mich zu wenig vorbereitet, als ich den Forschungsantrag stellte. Ich war einfach davon ausgegangen, dass sich schon genügend Primärquellen finden würden, und habe überall großartige Erwartungen geschürt. Und jetzt stecke ich fest.«
    »Dann sag es deiner Lektorin«, schlage ich vor. »Sag ihr, dass du dich geirrt hast, und biete ihr an, ein anderes Buch zu schreiben.«
    »So einfach ist das nicht.« Er schaufelt sich ein weiteres riesiges Stück Kuchen rein.
    Während ich zusehe, wie das Essen in seinem Mund verschwindet, wie seine Kiefer arbeiten wie ein Häcksler und er alles hinunterschlingt, kocht Panik in mir hoch. Meine Fingerspitzen fahren den Rand des Buches entlang und drücken auf die Ecken, bis es wehtut.
    »Du hast doch immer gesagt, dass am nächsten Morgen alles schon wieder ganz anders aussieht«, sage ich. »Vielleicht solltest du einfach schlafen gehen.«
    »Es geht hier um Erwachsenenprobleme, Lia. Die sind ein bisschen komplizierter. Aber das ist nichts, worüber du dir Sorgen zu machen brauchst.«
    Natürlich nicht, ich bin ja auch noch ein kleines Mädchen und glaube ja auch noch an den Weihnachtsmann, an die Zahnfee und an dich.
    Er kramt in der Bademanteltasche nach seiner Lesebrille. »Steht mein Laptop da drüben?«
    Ich deute aufs Bücherregal über dem Fernseher.
    »Ah!« Er steht auf und durchquert den Raum. »Iss doch den Rest«, sagt er und hält mir den Kuchen (545) direkt vors Gesicht.
    »Ich möchte nicht.« Ich schiebe ihn von mir weg. »Er ist ekelhaft.«
    Er runzelt die Stirn. »Ist doch bloß Kuchen.«
    Immer noch hält er den Kuchenteller wenige Zentimeter vor mein Gesicht. Wenn ich ihm jetzt auf die Hand schlage, würde der Kuchen gegen die Multimedia-Anlage knallen und am Fernsehbildschirm runterrutschen.
    »Wir wollen doch nicht, dass deine Mutter Recht hat, oder?«
    »Womit?«, frage ich.
    »Damit, dass du wieder alte

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