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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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flimmern Lichter. Ich habe sie eine ganze Welt lang gekannt. Ich weiß von jeder Pyjamaparty, auf der sie war, von jedem Pfadfinderzeltlager und jeder Boyband, die sie toll fand. Ich weiß noch, wie ich mir das Bein gebrochen habe, als ich hinten bei ihr auf dem Rad mitfuhr, und wie ich ihr half, ihr Zimmer wieder weiß zu streichen, nachdem sie es vorher ohne Erlaubnis schwarz gestrichen hatte.
    »Erzähl mir was von ihr«, sagt er. »Etwas Schönes.«
    »Sie mochte Waffeln.«
    »Tut das nicht jeder?«
    »Sie meinte, die Welt wäre besser, wenn es immer Waffeln gäbe statt Brot.«
    Elijah isst einen Löffel voll Marmelade. »Wieso?«
    »Weil sie besser schmecken und ›Waffeln‹ schöner auszusprechen ist.«
    »Da ist was dran.«
    Die finster blickende Kellnerin kommt vorbei und legt die Rechnung mit den Zahlen nach unten auf den Tisch. Elijah dreht den Zettel um und wirft einen Blick auf die Endsumme.
    Ich zücke meine Brieftasche. »Was kriegst du?«
    Er greift in seine Hosentasche. »Schon okay.«
    »Sicher?«
    »Jawoll.« Er lässt eine Handvoll Kleingeld auf seinen Teller fallen. »Aber nur, wenn du deine heiße Schokolade austrinkst. Ich habe einen Jauchetank gesäubert, um dieses Geld da zu verdienen. Du musst deswegen aber kein schlechtes Gewissen haben oder so.«
    Ich unterdrücke ein Lächeln und schließe meine Hand um den Becher. Ich bin ein gesundes junges Mädchen in einem Lokal und kann ruhig noch ein bisschen heiße Schokolade trinken. Es ist ein gutes Gefühl und Ich will noch nicht nach Hause, wo mir doch gerade ein wenig wärmer wird. Ich werde warten, bis sich auf der heißen Schokolade eine Haut bildet, vor der ich mich so ekle, dass ich nicht weitertrinken kann. Er kann doch nicht von mir verlangen, Haut zu trinken. Ich werde noch zwanzig Minuten bleiben, bis die Bibliothek schließt. »Hast du immer noch Hunger?«, frage ich.
    »Ständig. Dieser Pommesgeruch macht mich echt wahnsinnig.«
    »Warum bestellst du dir dann keine?«
    »Geht nicht.« Er deutet auf den Kleingeldhaufen. »Mehr hab ich nicht dabei.«
    Ich zücke meine Kreditkarte und wedele damit in seine Richtung. »Kein Problem.«
    Zwei Pommes = 20.
    024.00
    Die ganze Rückfahrt über bin ich fast ein normales Mädchen. Ich bin in ein Lokal gegangen. Ich habe heiße Schokolade getrunken und Pommes gegessen. Habe mich mit einem Typ unterhalten. Ein paarmal gelacht. Ein bisschen so wie zum ersten Mal eislaufen, wackelig, aber ich habe mich getraut.
    Als ich das Haus betrete, beginnt das Flüstern wiede r …
    … Sie hat angerufen.
Dreiunddreißig Mal.
Und du bist nicht rangegangen.
Ihr lebloser Körper wurde im Zimmer
eines Motels aufgefunden, ganz allein.
Du hast sie im Stich gelassen.
Hättest, hättest, hättest irgendwasallesmenschenmögliche
tun sollen.
Du hast sie umgebracht.
    Ich versuche, das Flüstern nicht zu beachten, indem ich mich konzentriere. Ich gehe die Treppe hinauf. Ich gehe in mein Zimmer. Ic h …
    Du hast sie im Stich gelassen.
    … Halt die Klappe, ich werfe meine Geldbörse aufs Bett. Ich ziehe meinen Schlafanzug an. Ich brauche meinen Bademantel. Ich glaube, ich habe ihn aufgehäng t …
    Ich öffne meinen Kleiderschrank.
    Du hast mich im Stich gelassen.
    Cassie lehnt an einem Stapel Kartons, legt den Kopf schief und winkt mir zu. »Geht es dir gut?«
    Ich knalle die Tür so heftig zu, dass der Rahmen knackt.
    Vor zwei Jahren wäre sie fast zum Arzt gegangen. Das Fressen/Kotzen/Fressen/Kotzen/Fressen/Kotzen machte sie nicht dürr, sondern zur Heulsuse. Ihr Trainer schob sie gnadenlos in die Juniormannschaft ab, weil sie nicht schnell genug rennen konnte. Die Schauspiellehrerin meinte, es mangele ihr an »Ausstrahlung«, und gab die Hauptrolle jemand anders.
    »Ich kann nicht aufhören, aber so weitermachen kann ich auch nicht«, erklärte mir Cassie. »Nichts klappt.«
    Natürlich unterstützte ich sie. Ich recherchierte nach Ärzten und Kliniken. Ich schickte ihr Links zu Seiten mit Tipps zum Gesundwerden.
    Und ich sabotierte jeden einzelnen ihrer Schritte.
    Sie sei ja so was von stark, erzählte ich ihr, und dass sie wieder gesund werden würde, und wie stolz ich auf sie sei, und nebenbei ließ ich einfließen, wie viele Kalorien ich an diesem Tag gegessen hatte, die magische Zahl auf der Waage, den Umfang meiner Oberschenkel. Wir gingen ins Einkaufszentrum, wo ich darauf achtete, dass wir dieselbe Umkleidekabine benutzten, damit sie mein Gerippe im blauen Lichtschein aufglimmen sah. Wir gingen zum

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