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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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schwappt. Als ich stolpere, packt er meinen Arm, damit ich nicht hinfalle.
    023.00
    »Hier, trink.«
    Elijah schiebt mir einen schweren Becher voll heißer Schokolade hin. Ich kann mich nicht erinnern, wer sie bestellt hat. Auch nicht daran, hierhergelaufen zu sein.
    »Na los.«
    Ich brauche beide Hände, um den Becher hochzuheben, und nehme einen Schluck. Verbrenne mir die Lippen, die Zunge und meine rosige Kehle. Geschieht mir ganz recht. Meine Hand zittert, als ich den Becher wieder absetze, und der Kakao schwappt auf den Tisch. Elijah zieht Papierservietten aus dem Metallständer und wischt alles auf.
    Wir sind ein paar Häuserblocks von der Kirche entfernt. Ich kenne diesen Vegetarierladen von früher: Entspannungsmusik, Haschkekse und Unterschriftenlisten an der Kasse.
    »Wie geht es dir, Emma?«, fragt er.
    Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass er mit mir redet. Dass ich ihm ja immer noch nicht gesagt habe, wer ich bin, weil lügen leichter ist. Ich sollte mit einem braven Mädchenlächeln antworten: »Viel besser, danke, und dir?« Aber dafür bin ich einfach zu saumäßig müde.
    Er schiebt die durchweichten Tücher Richtung Tischkante. »Tote zu sehen, kann schon komisch sein.«
    Ich halte meinen Finger in den Dampf, der aus dem Becher aufsteigt, und schaue zu, wie der Koch den Grill bedient, die Fritteuse, den Mixer. Auf jedem Stuhl sitzt Cassie, lachend, kauend, und deutet auf die Speisekarte, wo das Tagesgericht steht.
    »Sie liegt nicht in ihrem Sarg«, bricht es aus mir hervor.
    Er erstarrt für einen Moment und blickt mir unverwandt in die Augen. Sein Haar ist frisch gewaschen und zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Den Holzstecker im Ohrläppchen hat er gegen einen Knochenring getauscht, der aussieht wie ein rundes Fenster neben seinem Unterkiefer. Er trägt ein angeschmuddeltes Hemd mit Knöpfen am Kragen und dazu eine traurige schwarze Krawatte. Seine Hände sind sauber. Sogar halbwegs rasiert ist er.
    »Ich weiß«, sagt er. »Das ist nur ihre äußere Hülle, nicht ihre Seele.«
    Ich schüttele den Kopf. »Das meine ich nicht. Sie hat sich im Sarg aufgesetzt. Und dann ist sie verschwunden. Hast du das denn nicht gesehen?«
    Er legt seine Hände auf meine und lehnt sich vor. Sie sind so warm, dass sie bestimmt gleich zu glühen anfangen. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragt er. »Trink noch ’nen Schluck, mach deine Augen zu und atme tief durch.«
    »Bescheuert.«
    Er lächelt und nickt. »Ja, ich weiß. Aber mach’s trotzdem.«
    Meine Hände heben den Becher wieder an die Lippen. Samtweiche Laken hüllen mich ein. Die Perlen auf meinem Abakus klackern. 30 0 ml heiße Schokolade = 400, aber mir ist eiskalt. Ich muss alles in einem Zug austrinken und noch mehr bestellen einen Schluck trinken und den Geschmack einfach nicht beachten. Ich nippe, setze den Becher wieder ab, ohne zu kleckern, und schließe die Augen. Durchatmen hat er gesagt. Ich atme Pfannkuchen und Pommes ein. Nervöse Gerüche.
    »Weiteratmen«, kommandiert er. Seine Stimme gleicht entferntem Donnergrollen.
    Der Koch legt irgendwas auf den Rost, was zu zischen beginnt. Stuhlbeine schaben über den Boden, als der Typ, der am Nachbartisch sitzt, aufsteht und geht. Jemand hebt ein Gestell mit Gläsern hoch, sie klimpern wie Regentropfen. Ein paar Frauen lachen; ihre Stimmen verheddern sich. Die Tür zum Toilettenraum quietscht.
    »Fertig?«, fragt er mich. »Jetzt mach die Augen auf. Nicht nachdenken. Mach sie einfach auf und rühr dich nicht.«
    Das Lokal rückt wieder in mein Bewusstsein: Tische, Stühle, Lichter, Küche. Überall Poster an den Wänden. Durch das Loch in Elijahs Ohrläppchen kann ich den Sichelmond und die Sterne sehen, die unter der Uhr an die Wand gemalt sind. Das Mädchen, das neben mir sitzt, ist nicht Cassie. Und der Kellner füllt auch nicht gerade ihren Becher auf.
    Ich drehe mich um und schaue nach hinten. Niemand hier ist Cassie.
    Ich habe nichts zu befürchten.
    »Besser?«, fragt er.
    »Besser. Danke.«
    »Kein Problem.« Er nimmt seine Gabel und spießt ein Stück Waffel auf, von der Ahornsirup trieft. »Du warst kurz neben der Spur. So was kommt vor.« Er schaufelt sich die Waffel in den Mund.
    »He, wo hast du die denn plötzlich her?«, frage ich.
    Er deutet zum Nachbartisch, wo die Kellnerin noch nicht abgeräumt hat. Der Fünfdollarschein klemmt unter dem Salzstreuer, eine halb volle Tasse Kaffee steht da, eine schmutzige Gabel liegt herum, und auf dem leeren Platzdeckchen

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