Wintermädchen
prangen ein paar Sirupflecken.
»Sonst hätten sie es weggeworfen.«
»Das ist ja ekelhaft! Und die Bazillen?«
»Von Gratismahlzeiten werde ich niemals krank. Willst du was?«
»Bloß nicht!«
Er lacht so laut, dass die Leute sich umdrehen und herüberstarren.
»Bist du immer so seltsam?«
Wieder lacht er. »Noch viel seltsamer. Schau mal hier.« Er krempelt seinen Ärmel hoch, um mir das Tattoo zu zeigen, das seinen ganzen Unterarm bedeckt: ein muskelbepacktes Etwas, halb Bulle, halb Mann, das auf einem Fahrrad durch eine Feuerwand fährt, mit Flügeln, die ihm aus Beinen, Armen und dem Helm wachsen.
»Was soll denn das darstellen?«
»Den Gott der Fahrradkuriere. Cool, oder? Ich hatte ’ne Vision von ihm, als ich mal ein Paket bei einer Anwaltskanzlei in Boston abliefern musste. Ich sah ihn plötzlich so deutlich vor mir, als würde er jeden Moment die Hand ausstrecken, um mich zu erwürgen. Der musste einfach unter meine Haut.«
»Du hast Visionen?«
»Das ist eine Gabe. Du solltest mal das Tattoo auf meinem Hintern sehen,«
»Nein, danke.«
Mein Blick wandert durchs Lokal. Immer noch keine Cassies. »Und was ist, wenn du eine Vision kriegst, die dir nicht gefällt?«
»Spielt keine Rolle, ob sie mir gefällt oder nicht. Wichtig ist, dass ich mich damit auseinandersetze und rausbekomme, weshalb sie mir gesandt wurde.«
Seine Augen fixieren pfeilschnell irgendetwas hinter mir, und plötzlich lässt er den Waffelteller über den Tisch schlittern, sodass er mir fast in den Schoß fällt.
Unsere Kellnerin erscheint: langer Jeansrock, dicker Islandpullover, winzige Muschelpiercings oben an den Ohrrändern. BM I 23. Das Tablett hat sie auf ihrem Hüftpolster abgestützt. Sie schaut irritiert auf die Waffeln. »Wann habt ihr die denn bestellt?«
»Ich hab sie nicht bestellt«, sage ich.
Elijah versetzt mir unter dem Tisch einen Tritt. »Mein Kumpel hat sie ihr geschenkt«, erklärt er. »Der Typ mit der schmuddeligen Hockeyjacke – er ist vor ein paar Minuten gegangen.«
Die Augen der Kellnerin verengen sich zu Schlitzen. »Ach, tatsächlich?«
»Er hat uns doch nicht etwa mit der Rechnung sitzen lassen, oder?«, erkundigt sich Elijah.
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Er hat bezahlt.«
»Und er hat Ihnen doch auch reichlich Trinkgeld gegeben, also wo ist das Problem?« Er deutet auf ihr Tablett. »Ist das für mich?«
Sie stellt ihm den Teller mit ein paar Scheiben Mehrkorntoast und einem kleinen Töpfchen voll roter Marmelade hin und verschwindet ohne ein weiteres Wort.
Elijah klatscht sich die Marmelade aufs Brot und verteilt sie großzügig mit seinem Messer.
»Darf ich dich was fragen?«
Er beißt hinein. »Was du willst.«
»Was hat ein Fahrradkurier mit Visionen in der Pampa von New Hampshire zu suchen?«
»Ich wohne nicht in der Pampa, sondern in Centerville. Willst du mal beißen?«
Gern. »Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Ich hab keinen Hunger.«
»Außerdem war ich früher mal Fahrradkurier. Im Moment bin ich Mädchen für alles. Und stelle fest, dass ich verdammt gut mit einem Schraubenschlüssel umgehen kann.« Er klappt seinen Toast zusammen und stopft sich fast alles auf einmal in den Mund. »Das ist echt der Hammer, ich kann einfach alles.«
»Ja, klar.« Ich lache und trinke aus Versehen ein bisschen heiße Schokolade. »Was zum Beispiel?«
»Wo soll ich da anfangen? Ich bin Dichter, Philosoph, Fischer. Mein Vater sagt, ich bin ein Penner, aber der hält sich selbst für die absolute Elite. Ich kann Holz hacken, Mulch verteilen, Bier zapfen und perfekte Tomaten züchten.«
»Klar.«
»Ich bin ein super Pokerspieler, ein Schamane und ein Wanderer auf der Suche nach der Wahrheit. Ich kann Taxi fahren und Motorrad und auf einem Bullen reiten, aber nicht sehr lange. Ich schaufele auf sehr originelle und künstlerische Art und Weise Kuhmist. Und sobald mein Auto wieder läuft, werde ich Zigeuner und entdecke vergessene Welten.«
»Und ein Dieb bist du auch«, ergänze ich.
»Wenn die Situation es erforder t …« Er zieht den verklebten Teller wieder zu sich heran und taucht seinen Toast in den Sirup.
»Warum nutzt du deine visionären Fähigkeiten nicht, um im Lotto zu gewinnen oder Geld auf Bäumen wachsen zu lassen, anstatt Essen zu klauen?«
»Das wäre doch langweilig.« Er leckt sich den Sirup von der Handkante. »Jetzt du. Wer oder was bist du?«
»Traurig.« Das Wort entschlüpft mir einfach.
»Du hast sie gut gekannt, stimmt’s?«
Hinter meinen Augen
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