Wintermaerchen
denn schon bald sollte es die beschwerliche Rückreise in die Alte Welt antreten – ob nach Riga, Neapel oder Konstantinopel, ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich war es eher eine Stadt wie Konstantinopel, denn an Deck und in den Massenquartieren, die während der Überfahrt vom Stimmengewirr zahlloser Passagiere erfüllt gewesen waren, herrschte auch jetzt noch ein buntes Durcheinander verschiedener Rassen. Da gab es Menschen, die aus Fernost, aus dem asiatischen Teil Russlands und vom Balkan stammten. Auf der Flucht vor Brandschatzung und Gewalt waren sie in die Neue Welt gekommen. Aber Schiffe, die in einen Hafen einlaufen, fahren irgendwann dahin zurück, woher sie gekommen sind. Ohne viel Aufhebens nahmen sie all jene wieder mit, die dazu verurteilt wurden, das Meer ein zweites Mal zu überqueren. Unter ihnen befanden sich Menschen, die schon bei ihrer Ankunft halb tot waren. Auf sie wartete ein nasses Grab auf hoher See. Andere waren stark genug, um in ihre verödeten, feindseligen Dörfer zurückzukehren. Bis zum Ende ihrer Tage würden sie sich dort immer wieder staunend daran erinnern, dass sie einst für eine kurze Zeit in einer anderen Welt gewesen und zurückgekehrt waren.
In jener Nacht fanden rund einhundert Menschen keinen Schlaf auf dem schmucken kleinen Dampfer, der in der Nähe von Governors Island dümpelte. Sehnsüchtig starrten sie über das Wasser auf die hell erleuchtete, hoch aufragende Häuserfront und die funkelnden Brücken. Es war spät im Frühling. Die Luft war lau, und der Nebel schwebte tief über dem Hafen, sodass die Stadt noch unwirklicher und märchenhafter als in einer klaren Nacht aussah. Amerika schien kein Festland zu sein, sondern eine glitzernde Insel, deren turmhohe Bauten aus dem Dunst geradewegs in den Himmel wuchsen.
Die Menschen auf dem Schiff waren so schweigsam, weil es ihnen die Sprache verschlagen hatte. Noch am Morgen desselben Tages hatte ihnen vor freudiger Erwartung das Herz heftig in der Brust geklopft, als sich die vielköpfige Menschenmenge nach endlosem Warten endlich in Bewegung gesetzt hatte. Tausend Passagiere hatten sich mit einem Freudenschrei die Gangway hinabgedrängt, das unbekannte Land betreten und andächtig dem morgendlichen Läuten der Kirchenglocken gelauscht, das aus Brooklyn herüber an ihre Ohren drang. Vor ihnen lag die Stadt. Geschäftigte Straßen zogen sich die leichte Anhöhe hinauf. Überall herrschte reges Treiben, im Hafen, auf den Molen und draußen auf dem Fluss. Nachdem die Einwanderer so lange in der Enge des Schiffes zusammengepfercht gewesen waren, vermeinten sie fast eine Musik zu hören, die die hohen Gebäude der großen Stadt umspielte. Welche Vielfalt, welcher Reichtum! Dort vorne war gewiss das Tor zum Himmel. Einwände, dass dies alles auf Täuschung beruhte, wurden mit den Worten abgetan: »Nach allem, was wir durchgemacht haben, geht nun endlich unser schönster Traum in Erfüllung. Selbst wenn es hier nicht so herrlich sein sollte, wie es aussieht, so wollen wir doch unser Bestes geben, um es so schön zu machen, wie wir es uns vorgestellt haben.«
Am Fuß der Gangway wurden die Einwanderer in zwei lange Reihen aufgeteilt und in ein großes Gebäude geführt. In dem riesigen Saal drängte sich schon eine große Menschenmenge. Durch die weit geöffneten Türen und Fenster brachte eine sanfte Brise den Duft von Blumen und Bäumen herbei.
In der langen Menschenschlange, die langsam vorrückte, befanden sich auch ein Mann und eine Frau, er stämmig und blond, mit sorgfältig gestutztem Schnurrbart und wässrig blauen Augen, sie mit einem empfindsamen Gesicht, das Verletzlichkeit und die Fähigkeit des Mitleidens verriet. Der liebliche Mund deutete auf eine gewisse innere Schwäche hin, doch anders als die plumpen, vierschrötigen Menschen rings um sie her war sie hoch gewachsen und drahtig. Auf den Armen trug sie einen Säugling. Als die Reihe an sie kam, im Untersuchungsraum examiniert zu werden, überließ sie das kleine Kind für eine Weile seinem Vater.
Gewiss hielten die Umstehenden den Mann für geistesgestört, denn während er seinen Sohn mechanisch streichelte, murmelte er ihm unverständliche Worte ins Ohr, die einen verzweifelten und zugleich beschwörenden Unterton hatten. Dabei ließ er nicht die Tür aus den Augen, durch die seine Frau gleich treten würde. Als sie nach einer Weile zurückkam, gab sie ihrem Mann mit einem Achselzucken zu verstehen, dass sie nicht wusste, wie der Befund der Ärzte
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