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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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ausgefallen war. Wortlos nahm sie das Baby und blickte auf es hinab, während ihr Mann durch eine andere Tür verschwand. Im Gehen sah er, dass seine Frau auf dem Rücken ein mit Kreide gemaltes Zeichen trug.
    Bei der ärztlichen Untersuchung musste er in ein Schälchen spucken und sich ein wenig Blut abnehmen lassen. Rasch wurde sein ganzer Körper examiniert. Ein Schreiber notierte alles, was die Ärzte zu ihm sagten. Nachdem der Mann sich wieder angekleidet hatte, wurde auch auf seinen Rücken mit Kreide ein Zeichen geschrieben.
    Am späten Nachmittag wurde die Bedeutung der Kreidezeichen offenbar. Der Saal hatte sich inzwischen bis auf etwa hundert Personen geleert. Die Frau weinte bereits, als ein Beamter zu ihr trat und ihr in ihrer Muttersprache eröffnete, dass sie mit ihrer Familie zurückmüsse.
    »Aber warum?«, fragten die beiden ängstlich und empört. Statt einer Antwort forderte der Mann sie mit einer Handbewegung auf, sich umzudrehen, damit er ihnen sagen konnte, was das Kreidezeichen auf ihrem Rücken bedeutete. Er warf einen Blick darauf und sagte nur ein einziges Wort: »Schwindsucht.«
    »Und was wird aus dem Kind?«, fragte die Frau. »Kann unser Sohn hier bleiben? Wenn wir zurückmüssen, darf er doch hoffentlich bleiben!«
    »Nein«, erwiderte der Behördenmensch. »Das Kind bleibt bei Ihnen.« Dabei verzog er das Gesicht in einer Weise, die darauf schließen ließ, was er von einer Mutter hielt, die ihr Kind verlassen wollte.
    »Verstehen Sie denn nicht?«, sagte die Frau. Sie zitterte am ganzen Körper. »Verstehen Sie denn nicht, was wir hinter uns haben?« Aber der Beamte hatte sich schon abgewandt. Langsam schritt er die Reihe der Unglücklichen ab, um ihnen den Urteilsspruch zu verkündigen.
    Irgendwann legte das Schiff ab und fuhr ins Hafenbecken hinaus, um vor Anker zu gehen. Wahrscheinlich sollte damit vermieden werden, dass jemand von ihnen über Bord sprang, um an Land zu schwimmen, sagten sich die Passagiere. Doch selbst für jene, die schwimmen konnten, wäre das Wasser viel zu kalt, die Entfernung zu groß und die Strömung zu stark gewesen. Eisschollen trieben vorbei und rieben sich leise schurrend aneinander. Manchmal prallten sie auch gegen den Schiffsrumpf; es klang wie die Schläge mit einem hölzernen Hammer. Der Mann machte den Versuch, den Kapitän zu bestechen, damit das Kind heimlich an Land gebracht werden konnte, aber da er nicht genügend Geld hatte, ließ sich der Kapitän nicht erweichen.
    Wenn der Mann und die Frau aus anderen Gründen zurückgewiesen worden wären, wäre es für sie vielleicht nicht undenkbar gewesen, zu jenem Ort zurückzukehren, den sie so freudig verlassen hatten. Doch da sie nun wussten, dass sie bald sterben mussten, waren sie fest entschlossen, ihr Kind in Amerika zu lassen, mochte ihnen die Trennung noch so schwer fallen. Auf das Kind zu verzichten war fast so schlimm wie der Tod.
    Nach einer Weile begann der Mann, ruhelos durch das ganze Schiff zu irren. Warum kann ich mich nicht mit meinem Schicksal abfinden, fragte er sich verzweifelt. Warum wollte ich so hoch hinaus? Das Bild seiner Frau erschien vor seinem inneren Auge. Fast hätte er geweint, doch dann packte ihn die Wut. Er blieb stehen und schlug mit der Faust gegen eine dünne Trennwand. Ein hinter Glas gerahmter Stich fiel zu Boden und zerbrach klirrend. Der Korridor war mit Scherben übersät. Unmittelbar vor dem Mann befand sich eine Tür aus schmalen, schräggestellten Holzlatten. Sie lud förmlich dazu ein, mit dem Stiefel eingetreten zu werden. Der Mann versetzte ihr einen so heftigen Tritt, dass sie mit lautem Scheppern aus den Angeln flog. Erschrocken sprang er zurück. Eine Weile lauschte er angestrengt, aber niemand schien etwas gehört zu haben. Der Mann erinnerte sich, dass der größte Teil der Mannschaft mit einer Barkasse an Land gegangen war. Nur ein paar Offiziere waren zurückgeblieben, aber die saßen oben auf der Brücke im Liegestuhl, die Füße auf der Reling. Sie rauchten und unterhielten sich miteinander, während sie zur hellerleuchteten Stadt hinüberblickten. Dort oben hatten sie gewiss nichts gehört.
    Der Mann betrat den Raum und schaltete das Licht ein. Er befand sich anscheinend in einer Art Konferenzraum. Grüne Ledersessel standen rings um einen runden Tisch aus dunklem Holz. Nachdem er sich umgeblickt hatte, machte der Mann das Licht wieder aus und wollte gerade gehen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Ein Frösteln überlief ihn. Er

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