Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
erschauerte. Gleich darauf drehte er sich auf dem Absatz um, lief in den Raum zurück, schaltete wiederum das Licht ein und blickte auf den Gegenstand, der ihn zur Rückkehr bewogen hatte. In einer Ecke des Zimmers stand unmittelbar unter einem Bullauge ein großer gläserner Kasten. Darunter war ein kleines Modellschiff aus Holz zu sehen, eine vier Fuß lange Nachbildung der City of Justice . Das Schiffchen hatte sogar einen Kiel mit Ballast, richtige Masten und Schornsteine. Es war so detailgetreu ausgeführt, dass der Mann sich in seinem Inneren einen kleinen Raum vorstellte, in dem ein Mann vor einem Modellschiffchen stand, in dem ein kleiner Raum war, in dem ein Mann – und so weiter …
    Der Mann war ein ordentlicher Mensch, der unter normalen Umständen niemals mit der Faust gegen eine Wand geschlagen oder eine Tür eingetreten hätte. Doch da er an jenem Nachmittag einen Schicksalsschlag erlitten hatte, der für seine Frau und ihn selbst wahrscheinlich dem Todesurteil gleichkam, packte er nun einen der schweren grünen Ledersessel, hob ihn in die Höhe und ließ ihn auf den Glaskasten niedersausen. Mit ohrenbetäubendem Lärm prasselten die Scherben zu Boden. In gewisser Hinsicht war es geradezu belustigend.
    Wenig später waren der Mann und seine Frau in einem finsteren Winkel des Zwischendecks damit beschäftigt, mehrere Schnüre an dem kleinen Schiff zu befestigen. Als sie fertig waren, ließen sie es zu Wasser. Es schwamm nicht nur, sondern es legte sich sogar in den Wind und kenterte auch dann nicht, als es für kurze Zeit unter der riesigen Bugwelle eines vorbeifahrenden Schleppers begraben wurde. Offenbar wurde die Seetüchtigkeit des kleinen Schiffes nicht durch die Tatsache beeinträchtigt, dass es ziemlich hochbordig war.
    Nachdem die beiden das kleine Schiff wieder an Bord gehievt hatten, ging der Mann los, um eine Werkzeugkiste zu suchen. Das war auf einem halb verlassenen Schiff nicht schwer. Bald war er zurück und machte sich daran, mit einem Stemmeisen ein kleines Loch in das Deck des Modellschiffes zu stemmen, unmittelbar hinter dem Schornstein. Er steckte die Hand hinein und stellte fest, dass das Innere geräumig und trocken war. Bevor der Morgen graute, hatte er in dem kleinen Schiffsrumpf ein Bettchen gezimmert und in das Deck eine Luftklappe eingelassen, die so beschaffen war, dass sie sich dank zweier Scharniere fest schließen würde, falls ein Brecher auf das Deck niedergehen würde. Eine kleine Feder sorgte dafür, dass sich die Klappe danach wieder öffnen würde.
    Als der große Sonnenball am Horizont mit der Verheißung des ersten warmen Frühlingstages aufging, legten die Eltern das Kind in das Schiffchen und ließen es über die Bordwand ins Wasser hinab. Sie schauten zu, wie es geschwind von der Strömung in das grünliche, sonnenbeschienene Fahrwasser hinausgetragen wurde. Bald konnten sie es nicht mehr sehen. Die Frau weinte. Alles, was sie im Leben geliebt hatte, wurde ihr genommen.
    »Kinder gehen nicht so leicht zugrunde, glaube mir«, sagte der Mann. »Außerdem ist es so vielleicht besser, weil …« Weiter kam er nicht. Ein Blick auf das Gesicht seiner Frau, auf ihren schmerzlich verzogenen Mund mit den zusammengepressten Lippen ließ ihn verstummen. Fortan war er nicht mehr ihr Beschützer. Ein schreckliches Schicksal hatte sie beide auf die gleiche Stufe gestellt. Als sie sich umarmten, war es anders als alles, was sie jemals zusammen getan hatten. Es war das Ende.
    Am Nachmittag desselben Tages stach das Schiff in See.
    *
    Die City of Justice en miniature tanzte wie ein übermütiges Fohlen auf den Wellen des Gezeitenstromes, der zwischen Brooklyn und Manhattan dahinschoss. Unbemerkt überquerte das kleine Schiff das belebte Hafenbecken und wäre mehrmals fast vom Bug großer Barkassen und Dampfschiffe wie ein rohes Ei zermalmt worden. Als sich der Abend herabsenkte, näherte es sich dem Ufer von Jersey in der Gegend des Sumpflandes von Bayonne. Das war eine geheimnisumwitterte Gegend mit unzähligen schmalen Durchfahrten und Kanälen, die auf keiner Seekarte verzeichnet waren und manchmal unverhofft in weite Wasserflächen einmündeten. Der rastlose Wolkenwall sorgte dafür, dass diese Landschaft, die von einem ganz eigenen Leben erfüllt war, sich ständig veränderte.
    Gemächlich bahnte sich die City of Justice ihren Weg durch das Gewirr der schmalen, von Schilf gesäumten Wasserarme. In einer großen Bucht, die mehr einem Binnensee ähnelte, den sechs Flüsse

Weitere Kostenlose Bücher