Wintermaerchen
einem Übermaß ungezügelten Lichts überwältigt worden, einem Energieschock, der durch die grauen Schluchten peitschte wie ein gerissenes Tau. Und manchmal, wenn die Stadt so sehr sie selbst war, dass sie zitterte und bebte, wurde sein Geist der Gegenwart enthoben, und er fand sich in jenen zeitlosen Korridoren wieder, die unweit der gleißenden Kraftfelder, die alle Form zusammenhalten, das Labyrinth der Straßen durchziehen. Die dumpfe Sirene des Fährschiffes öffnete ihm Gang auf Gang durch den verlockenden Spitzenschleier des Nebels und weit darüber hinaus.
Erfahrungen dieser Art erwiesen sich als ausgezeichnete Vorbereitung auf Praegers Amtseinführung. Durch sie erhielt er, was er erstrebte, und verlor zugleich sich selbst. Obwohl er nicht getötet wurde, hatte die Zeremonie etwas von einer Hinrichtung. Sie riss ihn aus seinem gewohnten Leben heraus und grenzte ihn von den anderen Menschen ab. In früheren, freundlicheren Epochen war der Bürgermeister einfach nur einer von der Truppe gewesen. Heutzutage war er eingezwängt in schwere Verantwortung, und seine Jugend flatterte ihm davon – wie Tauben, die ins Blaue aufsteigen, sich umsichtig ihren Weg zwischen eisbedeckten Zweigen hindurch suchen und den Morgenhimmel in funkelnde Zellen zerlegen.
Der Hermelinbürgermeister erschien, angetan mit hermelinbesetzter Robe und Halskrause, mit Hermelinmütze, Hermelinumhang und Hermelinmuff. Aus dieser Masse purpurnen, weißen und schwarzen Pelzes hervorlugend, betrat er wie ein geziertes, von Explosionen geschocktes Waldhörnchen die Empore und stellte sich traurig neben seinen designierten Nachfolger.
Als Praeger sich umwandte, um den amtierenden Bürgermeister zu begrüßen, erblickte Praeger hinter dem Pelzwesen, das sich da auf ihn zuschob, eine Reihe von Parteibonzen auf dem Podium, dahinter eine weitere Reihe und so weiter bis hin zur cremefarbenen Mauer des Rathauses, an der die Tribüne endete. Warum nur waren all diese Parteigrößen fast ausnahmslos einen Meter neunzig hoch, zweihundertundfünfundzwanzig Pfund schwer und hatten rotnasige, rotwangige, fleischige Gesichter, die von einem Kranz silbrig-weißer Haare gekrönt waren? Diejenigen, die nicht so aussahen, waren dürre Männchen mit schmalen Schnurrbärten, heiseren Stimmen und Sonnenbrillen, die ihnen wie festgewachsen auf der Nase saßen. Die großen Dicken hatten keinen Hals, und die kleinen Dürren hinkten leicht. Gewiss ist das alles Teil eines göttlichen Plans, sagte sich Praeger.
Er war der erste Bürgermeister, der seine Wahl nicht den Parteibonzen zu verdanken hatte, und jetzt waren sie und alle Notablen der Stadt erschienen, um seine Rede zu hören. Sie wussten nicht, was sie von ihm zu erwarten hatten. Möglicherweise würde er über den Zauber des Winters reden, die böse Macht des Fernsehens geißeln oder laut über das Schicksal der Stadt nachdenken.
Da es bis zur Jahrtausendwende nur noch genau ein Monat war, hatte Praeger de Pinto sich entschlossen, über das metaphysische Gleichgewicht zu sprechen, das alle Ereignisse beseelte und für die Stadt so charakteristisch war, dass es fast ihr Wahrzeichen hätte sein können.
»Ich sehe viele verwirrte Gesichter«, sagte er. »Warum nur? Sehen Sie denn nicht, dass diese Stadt den Mechanismus nährt, der alles im Lot hält? Ach, ich weiß schon, Sie haben dafür fälschlicherweise den Begriff Kontrast gewählt, Sie haben einen Blick auf die Lektionen geworfen, die sich für die Gesellschaft ableiten lassen, und dann haben Sie sich abgewandt. Aber glauben Sie denn wirklich, dass der Patrizier im Hermelin auserwählter ist als der Obdachlose, der in einem Hauseingang kauert und langsam stirbt? Als ich ein kleiner Junge war, sagte mir meine Mutter: ›Wenn du nebenan bei dem Friseur, der in dem Speicher über seinem Laden Stunden gibt, Jiu-Jitsu lernst, dann wirst du jeden großen Mann mit einem einzigen Finger besiegen können.‹ Ich fragte sie: ›Wie viele große Männer mit einem einzigen Finger gibt es denn, Mama?‹ Damals nahm ich immer alles so wörtlich. Aber als ich schließlich begriff, was sie meinte, war ich nicht überrascht, denn schon vorher hatte ich erkannt, dass für jede Not ein Ausgleich gewährt wird und dass wir im Fallen, im Versagen erhöht werden. Es ist, als gäbe es hinter unserem Rücken eine Hand, die alles, was aus dem Gleichgewicht geraten ist, wieder zurechtrückt. Warum, glauben Sie wohl, hatten die Heiligen nur selten die weltliche Macht, in denen
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