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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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wir irrtümlich Früchte der Gerechtigkeit zu erkennen vermeinen? Glauben Sie etwa, sie hätten sie benötigt oder wären auf sie besonders erpicht gewesen?«
    Trotz der Kälte begannen die Bonzen zu schwitzen. Dieser neue Bürgermeister redete nicht nur wie ein Pfaffe, sondern er zeigte auch das salbungsvolle Gehabe eines Klerikers. Sie hatten immer schon gewusst, dass eine Theokratie die einzige wirkliche Bedrohung ihrer Macht war. Umgekehrt gerieten auch die Prälaten, die sich wie bunte Kakadus auf den hinteren Reihen des Podiums drängten, in gewaltige Erregung. Konnte es sein, so fragten sie sich, dass ihre schon seit langem aufgegebenen Träume sich durch diesen Mann erfüllen sollten, der das Rathaus mit einem Frontalangriff durch die Hintertür erobert hatte? Sie brannten darauf zu erfahren, welcher Religionsgemeinschaft er angehörte, damit sie Anspruch auf ihn erheben konnten. Der Name de Pinto ließ alle Möglichkeiten offen, der Mann konnte ebenso gut Katholik, sephardischer Jude oder gar ein Griechisch-Orthodoxer sein.
    »Machen Sie nicht den Fehler, meine Ansichten über weltliche Macht und materiellen Reichtum für ein Mittel zum Schutz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zu halten! Ich sehe die Marxisten in Reihe dreißig auf ihren Stühlen zappeln. Hören Sie auf damit! Umverteilung der Güter? Wenn Sie das glücklich macht – meinetwegen! In gewisser Hinsicht stimme ich mit Ihrer Vorstellung von der Verwirklichung der Gleichheit überein – jedoch nicht so weit, dass ich bereit wäre, die Tyrannei hinzunehmen, die Leute wie Sie, die keine Augen haben für die Gnade Gottes, ausüben würden, gäbe man ihnen die Gelegenheit, ausschließlich nach ihren mechanistischen Maximen vorzugehen. Ich glaube, dass der Geizkragen in seinem Ohrensessel ebenso fähig ist, über die Grenzen dieser Welt hinauszuschauen, wie der Obdachlose, den ich vorhin erwähnte. Daher habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn man jenen Obdachlosen von der kalten Straße hereinholt und auch ihm Beef Wellington zu essen gibt. Das ist nur gerecht. Aber das allein reicht nicht, sondern ist im Grunde genommen auch nur wieder eine primitive Theologie. Weit erhaben über diese Dinge ist jenes kunstvolle, allzeit gegenwärtige und sich stetig erneuernde Gleichgewicht. Es lässt sich beobachten in der Natur und ihren Gesetzen, in den Jahreszeiten, in der Landschaft, in der Musik und am großartigsten in den Vollkommenheiten der himmlischen Sphäre. Aber auch hier, in dieser Stadt, offenbart es sich: Überall, an jeder Straßenecke bietet die Stadt Bilder des Triumphs und Bilder der Hoffnungslosigkeit. Sie ist ein Kaleidoskop aus Sonnenlicht und Schatten, das unsere Lage weit besser repräsentiert als das Rad des Schicksals, das in seiner Polarität zwar in sich schlüssig ist, jedoch nicht der Zersplitterung und dem fragmentarischen Charakter der Ereignisse und der Zeit Rechnung trägt. Das Heil des Menschen in seiner vollkommenen Schlichtheit ist an den von uns errichteten Gebirgen aus Stein zerschellt und in alle Winde verstreut worden. Nun ist es an uns, nach sorgfältiger Abwägung die Teile wieder zusammenzufügen – ein Unterfangen, das Geduld und Einsicht auf eine harte Probe stellt. Wir lernen, dass eine gerechte Tat nicht immer Gerechtigkeit zur Folge hat und dass Gerechtigkeit jahrelang schlafen kann, um schließlich zu erwachen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Wir lernen, dass ein Wunder nichts anderes ist als schlummernde Gerechtigkeit aus einer anderen Zeit, die erscheint, um jene zu entschädigen, die zuvor grausam im Stich gelassen wurden. Wer dies weiß, ist bereit zu leiden, denn er weiß, dass nichts umsonst geschieht.« Nach einer kurzen Pause wechselte Praeger das Thema: »Nun lassen Sie mich über die Brücke sprechen, die Jackson Mead bauen wird.«
    Craig Binky saß an prominenter Stelle, sodass niemandem entging, was in der Folge geschah: Wie ein Mann, der gleichzeitig einen Schlag- und einen Herzanfall erleidet, griff er sich an die Stirn und an die Brust. Dann schnitt er in rascher Folge eine Reihe von Grimassen, bei deren Anblick ein Hanswurst vor Neid erblasst wäre. Während Praeger fortfuhr, sank Craig Binky auf die Knie wie ein reuiger Sünder, wobei seine spastischen Zuckungen allerdings eher Gier und Gram ausdrückten als neugewonnene Erleuchtung oder Bußfertigkeit.
    »Er hat mir die Baupläne gezeigt«, sagte Praeger. »In den Zeichnungen und Aufrissen, die ich zunächst sah, schien die

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