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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Bewegungen lag eine gewisse Anmut, seine Augen blickten freundlich und klug, und das lange weiße Haar umrahmte seinen Kopf wie das Haupt eines Patriarchen.
    Nun war er bereit, in jene lebensvollen Gemeinschaften einzutreten, von denen er bislang ausgeschlossen gewesen war. Nur: es gab diese Gemeinschaften ja längst nicht mehr! Er hatte bis zu einem guten Ende durchgehalten, ohne ein einziges Mal umarmt worden zu sein. Vermutlich gibt es andere, die so sind wie ich, sagte er sich. Vielleicht gibt es Legionen von ihnen. Und es wäre ungerecht, wenn so viele Menschen nach so langer Zeit der Einsamkeit am Ende nicht belohnt würden.
    Aus diesem Gedanken schöpfte er den Mut für seinen letzten Gang über das Eis.
    *
    Als plötzlich mit ungewöhnlicher Härte ein, wie sie glaubten, beispielloser Winter über die Stadt hereinbrach, waren die Leute begeistert. Selbst jene, die kaltes Wetter und Schnee fürchteten und hassten, ließen sich rasch von den silbernen Polarnächten verführen und schlossen sich dem bunten, mittelalterlich anmutenden Treiben an, zu dem Schlittenfahrten und Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel gehörten. Fast schien es, als sollte die willkommene Unterbrechung des Alltags, die der Winter den Menschen manchmal kurz vor dem Weihnachtsfest beschert, kein Ende nehmen.
    Mehrere Lagen Stoff machten körperliche Reize mysteriöser und verlockender, als sie es seit vielen Jahren gewesen waren; eine fast altmodische Höflichkeit stellte sich zwischen den Menschen ein, und der Kampf gegen die Elemente ließ sie bescheiden genug werden, um zu begreifen, dass eine der grundlegenden Eigenschaften des Menschen seine Zerbrechlichkeit ist. Die Bürger der Stadt waren nicht so umtriebig wie sonst und arbeiteten auch nicht so hart, ihr Leben aber war schöner als je zuvor.
    Ein beliebter Zeitvertreib bestand darin, per Schlittschuh die Flüsse hinab bis zum Hafen zu laufen. Kräftige Winde fegten den Schnee von der Eisfläche und schichteten ihn an den Uferböschungen des Hudson, des East River und an den Küsten der Buchten zu haushohen Bollwerken auf, in die nach dem Vorbild römischer Katakomben hunderttausend Passagen und Tunnel getrieben wurden. Sie führten zu Schneesälen, in denen sich im Handumdrehen Restaurants, Hotels, Läden und Kneipen einrichteten, welche in ihrer bunten Vielfalt und Planlosigkeit viel attraktiver waren als die üblichen New Yorker Etablissements. Die Bewohner der Stadt ließen keine Gelegenheit aus, den Quadraten und Rechtecken Manhattans zu entkommen. Halbmondförmige und kreisrunde Räume, dämmrige, zum Teil leicht abschüssige oder ansteigende Gänge und Zimmer, die an Gemächer grenzten, die ihrerseits zu ganzen Ketten von Hallen, Tavernen und stillen Winkeln führten, bereiteten den Menschen, die von klein auf an rechte Winkel gewöhnt waren, großes Vergnügen. Schlittschuhläufer glitten von Ort zu Ort, verloren ihren Zeitsinn und verschwanden tagelang in den labyrinthischen Städten unter dem Schnee. Ganze Familien begaben sich dorthin, um in den Schneezimmern zu übernachten, an Spießen geröstetes Fleisch zu verzehren und an Eisrennen teilzunehmen. Irgendwann stellten sie dann verblüfft fest, dass sie schon seit Tagen von daheim fort waren und ihre herkömmlichen Pflichten und Termine auf sträfliche Weise vernachlässigt hatten. Nicht selten jedoch waren jene, mit denen sie Termine vereinbart hatten, genauso vergesslich und trieben sich ebenfalls auf dem Eis herum. Die hohen Wälle aus Schnee und die zugefrorenen Flüsse waren jedoch letztlich nur ein Umweg, der am Hafen endete. Der sah tagsüber aus wie eine Ebene, in der sich ganze Armeen gesammelt hatten. Nachts wurde er zum Rummelplatz und zum Freilicht-Observatorium.
    Tausende von Zelten waren auf dem Eis aufgeschlagen worden und machten den Schneepalästen Konkurrenz. Leicht konnte man sich in einem Gewirr schmaler Gassen und breiter Straßen verirren, in denen es von Schlittschuhläufern, Händlern, ganzen Mannschaften buntgekleideter Hockeyspieler, Rennläufern oder Eisstockschützen wimmelte, die zu irgendeinem Wettkampf unterwegs waren. Diese Turniere fanden auf großen Plätzen statt, die die Leute überall in der Zeltstadt ohne erkennbaren Plan freigelassen hatten. An unzähligen Feuerstellen dampfte es aus großen Kesseln, zappelnde Hummer wurden in kochendes Wasser geworfen, und viele, viele Dutzend Eier purzelten hysterisch durcheinander wie kleine kahlköpfige Wesen ohne Gliedmaßen. Überall gab es für

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