Wintermaerchen
Schon bald hatte der Wind das Eis spiegelblank gefegt, und nur die gewichtigen Backsteinöfen rutschten darauf noch schwerfällig hin und her wie kranke Elefanten.
»Was ist das?«, sagte Asbury und zeigte auf ein sackförmiges Bündel, das über das Eis schlidderte. Aus der Art, wie es sich bewegte, schlossen sie, dass es von beträchtlichem Gewicht sein musste. Manchmal wurde es von einer scharfen Kante im Eis aufgehalten, bis der Wind drehte und es wieder befreite. Dann glitt es weiter, zuerst langsam, dann immer schneller. Wenn es dann nach einer Weile wiederum zum Stillstand kam, geschah dies mit derselben Verzögerung, mit der es sich in Bewegung gesetzt hatte. Im Gegensatz zu den anderen Gegenständen, die wie Geschosse vorbeisausten, bewegte sich dieses Ding mit einer gewissen Anmut, hinter der sich eine Intention verbergen mochte.
Erst als Peter und Asbury die im Zeitlupentempo hin und her schlenkernden Arme erkennen konnten, begriffen sie, dass das Bündel ein Mann war. Allem Anschein nach war er steifgefroren, und nur die Schultermuskeln waren wegen der ständigen Bewegung nicht erstarrt, sodass beide Arme neben dem Körper graziös wie fallende Rosenblätter auf- und abwippten.
Peter Lake und Asbury rannten aufs Eis hinaus, packten die Gestalt und drehten sie um. Zu einer Grimasse erstarrt, mit Raureif und Schnee bedeckt, blickte ihnen aus einem Knäuel handgewebter, zerlumpter Wollsachen und Tierfelle ein Nikolausgesicht entgegen.
Peter Lake stutzte. Um ein Haar hätte er die einmalige Gelegenheit verstreichen lassen, doch dann ließ er sich auf ein Knie nieder, schloss die Gestalt in seine Arme und hob sie hoch.
»Abysmillard«, flüsterte er.
Plötzlich fühlte er sich um ein ganzes Jahrhundert zurückversetzt, denn machtvoll überfiel ihn die Erinnerung an die Zeiten, da die Sumpfmänner dort geherrscht hatten, wo jetzt ein Hafen war. Vor seinem inneren Auge sah er ein schäbig gekleidetes Kind glücklich und selbstvergessen durchs Sumpfland streifen, wo ewiger Sommer zu herrschen schien. Angesichts der Stärke und Genauigkeit dieser Erinnerungen fühlte sich Peter, als durchlebte er jene längst vergangenen Tage noch einmal.
»Kennst du ihn?«, fragte Asbury. »Wo kommt er her?« Stocksteif gefroren, hatte der knorrige Abysmillard mit einem Menschen unserer Tage noch weniger gemein als ohnehin.
»Von dort drüben«, antwortete Peter und blickte in die Richtung, wo sich einst das Sumpfland von Bayonne befunden hatte. »Dort hausten früher Menschen, die an Indianer erinnerten. Sie ernährten sich von Muscheln, Austern, Hummern, Fisch, allerlei Federvieh, gepökeltem Wildschwein und Beeren, und sie kochten mit Torf und Treibholz. Aber das ist lange her, und inzwischen ist alles anders geworden. Jetzt ist dort die Hölle, wo früher die Sümpfe waren.«
»Er ist wohl der Letzte von ihnen«, sagte Asbury, den Abysmillards wildes, fremdartiges Gesicht beunruhigte.
»Nein«, sagte Peter Lake. »Der Letzte bin ich.«
Ex Machina
D as instinktive Wissen um das Jüngste Gericht ist vielleicht deswegen so verbreitet, weil ein Leben, das mit dem Tod endet, ein perfektes Symbol für die Geschichte ist, über die eines Tages ein Urteil gesprochen werden wird: Beide werden angehalten, von allem Beiwerk entkleidet und von demselben gleißenden Licht beleuchtet. Oder vielleicht ist dies auch so, weil man sich wegen ein oder zwei unbestreitbar großer Augenblicke Jahr um Jahr durchs Leben schlägt. Obwohl diese Augenblicke auf dem Schlachtfeld, in einer Kathedrale, auf dem Gipfel eines Berges oder während eines Sturmes auf hoher See auftreten können, erlebt man sie weit häufiger auf dem Rand eines Bettes, am Strand, in muffigen Gerichtssälen oder während einer Fahrt über hitzeflirrende Schotterstraßen an einem unheilschwangeren Sommernachmittag. Denn die Burgen unserer Zeit sind in winzige Kammern unterteilt – Kammern, die nichtsdestoweniger oft vollgestopft sind mit einer großen Anzahl von Menschen. Die Geschichte hat nämlich etwas übrig für Massen, und sie verfährt am freigebigsten mit dem Geschenk der Größe, wenn alle Soldaten einer Armee an einem Ort zusammengezogen sind, wenn eine Kathedrale bis auf den letzten Platz besetzt ist oder wenn der Nebel sich lichtet und die Schiffe einer Invasionsflotte feststellen, dass sie keineswegs allein sind, sondern Teil einer atemberaubenden Armada.
Auf seinen Wegen durch die magnetischen, hallenden Straßen der Stadt war Praeger de Pinto oft von
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