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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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wenig Geld gebratenes Fleisch, heiße Getränke und duftende Obsttorten. Schlittschuhläufer, Jongleure, Akrobaten, musizierende Studenten und tanzende Schweine zeigten an den belebteren Kreuzungen ihr Können. Kinder zischten auf Schlittschuhen herum wie überschallschnelle Insekten, mitten durch das Gedränge und unter Tischen hindurch, auf denen sich Waren und Speisen türmten. Die neunjährigen Knaben schienen die schnellsten und waghalsigsten zu sein. Dünn und elastisch wie Gummiband, scheuten sie keine Gefahr und hielten nur kurz an, wenn sie sich ein Stück Obstkuchen in den Mund stopfen wollten. Dann sausten sie wieder los, hakenschlagend und unberechenbar, und scheuchten jeden, der ihren Weg kreuzte, mit quäkender Stimme beiseite. Flink wie Pionen, Mesonen und verhexte Quarks waren sie überall gleichzeitig, beseelt von reiner, grenzenloser Energie.
    Abends brannten die Feuer bis neun Uhr. Dann ließ man sie ausgehen und bedeckte die Glut mit Blechen, um ungestört das nächtliche Firmament beobachten zu können. Bis weit nach Mitternacht hielt sich noch ein seltsamer Hauch von Wärme in der Luft und gestattete eine eingehende Betrachtung. Findige Geschäftemacher verliehen dicke Matten und Steppdecken, und die Leute versenkten sich, auf dem Rücken liegend, in den Anblick der himmlischen Kuppel. Ein ganzes Jahrhundert lang hatten die Bewohner von New York kaum gemerkt, dass es überhaupt so etwas gab wie Sterne, doch nun waren sie geradezu verliebt in sie.
    Nicht nur Astronomen, sondern auch zahlreiche Astrologen, Scharlatane und Quacksalber mit spitzen Hüten auf den Köpfen und Stiefeln, die mit Ziermünzen benäht waren, hielten gegen Gebühr Vorträge über die Plejaden, über Sextans, Rigel, Kent, Pavo, Gacrux, Argo Navis, Beteigeuze, Bellatrix und Atria. Handliche kleine Bücher über Sternkunde ragten aus vielen Gesäßtaschen, Fernrohre auf Stativen bildeten einen Wald aus dreibeinigen Bäumen, und das Volk wurde seit langer Zeit zum ersten Mal gewahr, dass es etwas gab, das alle Menschen lieben konnten und das sie nie im Stich lassen würde. Wer weiß, wie weit sie sich noch hätten mitreißen lassen (und wie sehr die Stadt davon hätte profitieren können), wäre dieser Zustand von Dauer gewesen. Aber Nacht für Nacht wurde das Wunder durch grimmig kalte Winde zunichtegemacht, die die Menschen bis zum Morgen vertrieben, die Zelte umbliesen und sogar die schwerfälligen Backsteinöfen, in denen der Kuchen gebacken wurde, vor sich herschoben, sodass sie aneinanderstießen wie Eisstöcke. Die Tage wurden kürzer, und Zug um Zug begrub der echte Winter das zauberhafte Vorspiel unter seiner unbarmherzigen Strenge. Das Eis wurde immer unwirtlicher, und die Zahl der Stunden, die der Beobachtung des Sternenhimmels gewidmet waren, nahm stetig ab.
    Eines frühen Morgens begab sich Peter Lake zum Bootsschuppen der Sun , um Asbury beim Reparieren des Motors zu helfen.
    Die Sonne stand noch nicht lange über dem Horizont, übergoss aber bereits alles mit frischem, kräftigem Licht. Die Luft war noch so kalt, dass den beiden Männern das Reden schwerfiel. Da sie bei der Arbeit mit kaltem Stahl in Berührung kamen, erstarb ihnen oft das Gefühl in den Fingern. Sie machten Feuer in einem Ölfass und kletterten alle fünf oder zehn Minuten von der Barkasse herunter, um sich zu wärmen. Um die Flammen gekauert, starrten sie über die verlassene Ebene aus Eis, in die sich der einst so geschäftige Hafen verwandelt hatte.
    Noch am Abend zuvor hatten sich dort Hunderttausende aufgehalten, aber jetzt war keine Menschenseele zu sehen. Sämtliche Zelte waren zusammengepackt worden, und die Leute hatten sich in ihre Behausungen oder in die Schneestadt zurückgezogen. Nur ein paar Backsteinöfen, die wie Meilensteine oder aus dem Boden ragende dicke Baumstümpfe aussahen, standen noch auf dem Eis. Sobald die Sonne über die Dächer von Brooklyn Heights hinwegschien, war der ganze Hafen in Blau und Weiß gebadet. Ein heftiger Wind kam auf, als das Sonnenlicht die Luft über dem Eis weckte. Das Feuer in dem Ofen, neben dem Asbury und Peter kauerten, wurde zu heller Glut entfacht. Sie hielten den Kopf vornübergebeugt, um die Augen gegen den Wind zu schützen. Papierfetzen wirbelten an ihnen vorbei durch die Luft, und allerlei Abfall – Konservendosen, kleine Holzscheite, Stöcke und Zeltheringe – schossen über das Eis wie Hockeypucks, um schließlich irgendwo in den Außenwänden der Schneestadt stecken zu bleiben.

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