Wintermaerchen
trat ans Fenster. Zuerst sah er die unter dem Schnee begrabenen Gärten, dann den dahinterliegenden Fluss. Der Wind fegte über das Eis und trug das Heulen und Tuten der Fähren und Schlepper mit sich, die im Hafenbecken gefangen lagen. Obwohl es erst später Nachmittag war, gingen unten am Fluss schon überall die Lichter an. In Queens stiegen aus vielen Kaminen dünne Rauchsäulen auf und verkündeten, dass in den Häusern schon zahlreiche Feuer brannten.
Es gibt vielleicht nichts Traurigeres als ersterbendes Licht über einer stillen Stadt.
*
»Als meine Mutter starb, war ich noch ein Kind«, sagte Hardesty und starrte durch das Fenster von Abbys Krankenzimmer in den beständig fallenden Schnee. »Als mein Vater starb, war ich zu jung, um für ihn zu sorgen, obwohl ich eigentlich schon erwachsen war. Es war nicht meine Sache. Natürlich hätte ich mich um ihn kümmern und dafür sorgen können, dass er sich mehr ausruhte, sich anders ernährte oder sonst etwas tat, um sein Leben zu verlängern. Aber die Monate, die ihm das gebracht hätte, hätten ihm nichts genutzt. Er war mein Vater, und ich hatte kein Recht, ihm Vorschriften zu machen. Ich merkte, wie er immer schwächer wurde, und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie gelähmt. Aber für ihn war das ein gutes Zeichen. Er sagte: ›Heb dir deine Kraft für deine eigenen Kinder auf. Das ist das Beste, was du für mich tun kannst. Nur ein Dummkopf würde seine Energie an einen alten Mann wie mich verschwenden, und es freut mich zu sehen, dass du so klug bist, deinen Mut für den Augenblick aufzusparen, in dem du ihn wirklich brauchen wirst.‹ Er ließ mich zurück mit dem Gefühl, dass ich ihn nicht im Stich gelassen hatte, und er hat mir gezeigt, wie man in Anstand stirbt. Aber weißt du« – Hardestys Stimme verriet beherrschte Wut, und sein Gesicht bekam einen entschlossenen Ausdruck – »in Abbys Fall kann ich das nicht zulassen. Es darf einfach nicht sein, es ist falsch! Und damit meine ich nicht bloß, dass es unangenehm ist oder dass ich es nicht will. Ich meine, dass es falsch ist. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Sie ist zu jung.«
Virginias Frage »Was können wir denn tun?« war nicht nur rein rhetorisch. Sie wollte daran glauben, dass etwas getan werden konnte, und sie glaubte auch, dass sie dafür verantwortlich waren, dass es getan wurde. Alle hatten sie davor gewarnt und gemeint, sie würden sich später nur unnötig Vorwürfe machen, weil sie sich eingebildet hatten, etwas ausrichten zu können, wo nichts auszurichten war.
»Aber wer sagt denn, dass es nicht in unserer Macht steht?«, fragte Hardesty, der sich jetzt an diese Warnung erinnerte. »Ich bin sicher, dass es schon erheblich größere Wunder gegeben hat. Es heißt, dass ganze Armeen wiederauferstanden oder durch ein Meer gerettet worden sind, das sich hinter ihnen schloss. Feuersäulen erheben sich in der Wüste, Blitz und Donner wüten, und Hügel springen hin und her wie Schafböcke, um die Rechtgläubigen vor ihren bösen und wilden Feinden zu beschützen.«
»Glaubst du denn, dass sich in der Wüste wirklich eine Feuersäule erhoben hat?«, fragte Virginia.
»Nein«, antwortete Hardesty, »daran glaube ich nicht. Die Geschichte ist sicher nur ein Gleichnis für etwas viel Größeres und Gewaltigeres, dem das Bild einer einfachen Feuersäule trotz all seiner Schönheit nicht einmal annähernd gerecht wird.«
»Ist es nicht Vermessenheit, zu glauben, wir könnten allein durch die Kraft unseres Willens aus derselben Quelle schöpfen?«
»Nein, ich denke nicht.« Hardesty zögerte. »Darauf zu hoffen, dass uns etwas ohne Anstrengung zufallen könnte, wäre meines Erachtens Selbstgefälligkeit. So, wie ich es verstehe, erleben nur die Menschen Wunder, die das Risiko einer Niederlage nicht scheuen. Wunder geschehen denen, die sich in dem Kampf, das Unmögliche wahr zu machen, vollständig verausgabt haben. Als mein Vater im Sterben lag, verhielt ich mich still, weil er es so für richtig hielt. Sein letzter Wunsch war, dass ich meine Kräfte für einen Kampf aufsparen sollte, den ich nicht verstehen würde. Er sagte: ›Der größte Kampf ist der, den du durchstehst, wenn deine Augen vor lauter Rauch nichts sehen können.‹«
*
Peter Lake wollte ins Sumpfland gehen, um herauszufinden, woran er sich erinnern konnte. Da der Hafen zugefroren war, brauchte er kein Boot. Stattdessen kaufte er ein Paar Schlittschuhe und schnürte sie fest zu. Dann band er seine Schuhe
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