Wintermaerchen
Aber diese schwarzbejackten Schlittschuhläufer ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ein paar Hundert Meter weit draußen auf dem Eis hatten sie zwei Wachtposten zurückgelassen, und Peter blieb nur noch eine Chance: Er musste schnurgerade auf sie zuhalten.
Die Posten entdeckten ihn, kaum dass er das Eis wieder betreten hatte. Sie standen etwa hundert Schritt voneinander entfernt. Jeder von ihnen feuerte einen Schuss in die Luft, um die anderen zu alarmieren. Peter steuerte auf einen Punkt in der Mitte zwischen den beiden zu und gewann im Gegenwind langsam Fahrt. Die Posten legten auf ihn an und schossen. Peter hörte die Kugeln pfeifen und empfand dabei so etwas wie Dankbarkeit. Kugeln, die durch die Luft pfiffen, schienen seine Berufung zu sein.
Methodisch und sorgfältig zielten sie auf ihn, ohne ihn jedoch zu treffen. Peter Lake war schon zu schnell und vollführte zuckende, ruckartige Bewegungen, die sie nicht berechnen konnten. Einmal gelang es ihm, sie etwas genauer zu erkennen. Die schwarzen Jacketts waren von altmodischem Schnitt und ähnelten jenen, die die beiden kleinen Männer im Restaurant angehabt hatten. Noch immer wusste Peter nicht, mit wem er es zu tun hatte. Ihre Taktik war auf jeden Fall meisterhaft, und wenn er bisher unversehrt geblieben war, dann hatte er das einzig und allein seinem Glück zu verdanken.
Sie waren jedoch nicht so schlau, wie sie es hätten sein können. Das zeigte sich, als Peter zwischen ihnen hindurchfuhr. Sie hielten ihre Pistolen im Anschlag und warteten den Augenblick ab, da er ihnen am nächsten sein würde. Aber dies war natürlich der Punkt, an dem Peters Kurs die unsichtbare Gerade zwischen ihnen schnitt. Als er sich genau auf der imaginären Verbindungslinie zwischen ihnen befand, feuerten sie mit einer Akkuratesse, die sie als Kreaturen der Geometrie auswies. Peter, der dies vorausgesehen hatte, ließ sich in die Knie fallen und krümmte sich zusammen wie einer jener Zirkusartisten, die sich als lebende Kanonenkugeln durch die Luft schießen lassen. Er hörte, wie sich die beiden Geschosse dicht über ihm kreuzten. Es war gewissermaßen ein verdoppelter Doppler-Effekt, ein ungewöhnlich lang anhaltendes, spindelförmiges Geräusch. Als Peter sich wieder aufrichtete, stellte er zu seiner Freude fest, dass sich seine beiden Angreifer mit beneidenswerter Präzision gegenseitig erschossen hatten. Reglos lagen sie mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Eis.
»Mein aufrichtigstes Beileid!«, sagte Peter mit lauter Stimme und lief weiter, ohne noch einmal innezuhalten. Er gönnte sich nicht einmal einen Blick zurück, denn er wusste, dass die anderen nun alles daransetzen würden, um ihn einzuholen. Er hielt geradewegs auf die Eisflächen unter den East-River-Brücken zu, wo sich inzwischen bereits viele Menschen tummelten. Dort, in der Nähe des Ufers, wollte er zwischen neu errichteten Zelten, Schneemauern und Schneehöhlen untertauchen.
Mühelos glitt er über das Eis. Er stieß sich so kraftvoll ab, als wollte er die stählernen Kufen seiner Schlittschuhe zerbrechen. Und dann, im Anmarsch auf Manhattan, fiel ihm plötzlich ein, dass er schon einmal über das Eis in die Stadt zurückgekehrt war, damals auf dem Rücken eines weißen Pferdes. Mittlerweile hatte er sich schon an solche bruchstückhaften Erinnerungen gewöhnt, die zwar seinem inneren Frieden nicht förderlich waren, aber doch immerhin eine Art Verheißung darstellten. Falls sich die Dinge weiterhin so zügig entwickeln, werde ich bald alles in Erfahrung bringen, dachte er und war sich seiner Sache sicher.
*
Die Eisstadt unterhalb der Brooklyn-Brücke, der Manhattan-Brücke und deren weiter nördlich gelegenen Geschwistern war ein Niemandsland zwischen Manhattan und der Stadt der Armen. Wenngleich die Armen, im Gegensatz zu ihren reichen Vettern von der anderen Seite, außerhalb ihrer eigenen Wohnviertel nicht um Leib und Leben fürchten mussten, empfanden sie beim Anblick der glitzernden Enklaven größtes Unbehagen. Von Türstehern argwöhnisch beäugt und von Matronen mit missbilligenden Blicken verfolgt zu werden, während man eine gepflegte Straße hinunterging – dies war ein Erlebnis, das es möglichst zu vermeiden galt. Seit langem schon hatten sich die beiden Städte wie entgegengesetzte Pole voneinander separiert, und wenn die Trennungslinie zwischen ihnen auch nicht physikalischer Natur war, so konnte an ihrer Existenz als solcher kein Zweifel bestehen. Die unsichtbare Grenze bei
Weitere Kostenlose Bücher