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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Five Points war Beweis genug.
    Sobald indes der Fluss zugefroren war, bildete sich auf dem neuen Territorium eine neutrale Zone. Theoretisch hätte der Kontakt zwischen Arm und Reich für beide Seiten positive Folgen haben können, in der Praxis erwies sich jedoch, dass es eher krudere Gelüste waren, die die Menschen in die Stadt aus dem Eis trieben. Zwar begnügten sich die meisten Besucher damit, mit ihren Kindern auf der zugefrorenen Bucht herumzustehen und die Sternbilder zu betrachten, doch zur gleichen Zeit wurden die Eisflächen unter den Brücken zum Schauplatz einer zynischen Transaktion. Die Reichen kamen, um eben jene Tugenden zu verraten, die sie hätten einbringen können, und gaben sich einer zügellosen Parodie dessen hin, was sie für die Moral der Armen hielten. Die Armen ihrerseits strömten herbei, um wie beutegierige Haie über sie herzufallen. Wollten sich die einen mit ihrem Geld Sklaven und Speichellecker kaufen, so stand den anderen der Sinn nach Bargeld, Uhren und Schmuck.
    Es herrschte ein grober Ton in der Eisstadt unterhalb der Brücken, und nicht nur darin unterschied sie sich grundlegend von ihren Pendants an anderen Stellen des Ufers. Da sich die Architektur auch in diesem Falle nach der Seelenverfassung der Erbauer und Bewohner richtete, stieß man hier vielerorts auf Hässlichkeit und Verfall.
    Es war gerade Frühstückszeit, als Peter Lake auf seinen Schlittschuhen herangesegelt kam. Im Zickzack lief er durch das Straßengewirr aus Schnee und Eis, bis er sich völlig darin verloren hatte. Schließlich fand er sich im Hof einer Kneipe wieder. Schneemauern hielten den Wind ab, und in einem Backsteinofen, den man ein paar Kilometer weiter südlich vom offenen Eis gestohlen hatte, brannte ein Feuer. An einem großen Holztisch saßen hungrige Zecher und warteten auf das Frühstück, welches aus knusprigem Maisgrieß und milchigen Getreideflocken bestand, beides zu einer gelblichen Paste vermengt. Was für Gesichter sie hatten, die Reichen und die Armen, die Männer und Frauen, ja sogar die Hunde, die zusammengerollt neben dem Ofen lagen: gierige Augen, Kinn und Nase zu einer unförmigen Schnauze zusammengeflossen; trunkenes, unverbindliches, allzu bereitwilliges Lächeln; Bäuche, die wie Muschelfleisch in der Schale an Fäden zu hängen schienen, und hufeisenförmige Zahnreihen, die glanzlos und angriffslustig aus immerfort belfernden Mäulern herausragten.
    Peter Lake setzte sich an den Tisch, und auch ihm setzte man eine Holzschale mit Brei vor. Die Mahlzeit wurde auf einer Art Tragbahre aus dicken Holzbohlen und Brettern gebracht; um elf kleine Schüsseln herbeizuschaffen, mussten zwei Männer ein zweihundertfünfzig Pfund schweres Ungetüm schleppen.
    Das Zeug schmeckte nicht schlecht. Alle außer Peter Lake ließen ihrer Fressgier freien Lauf und schlangen wie die Schweine. Peter blickte sich immer wieder verstohlen um und nahm die Szenerie in sich auf. Prostituierte standen an den Fenstern der oberen Etagen und knutschten mit ihren Freiem, als gälte es, einen ganzen Sumpf trockenzulegen. Und die Morastlöcher, an denen sie saugten, gehörten schmierigen, furunkelübersäten Kreaturen mit behaarten Rücken und fleischroten Lippen. Noch bevor Peter seine Schüssel zur Hälfte gelehrt hatte, waren ihm zwei Taschendiebstähle aufgefallen – und dann erlebte er sogar mit, wie einem der Taschendiebe die Taschen ausgeräumt wurden.
    Peter Lake vergaß einen Augenblick lang, wo er sich befand. Er ging völlig in dem Versuch auf, sich an einen Vers aus seiner Kindheit in Five Points zu erinnern. Es hatte irgendetwas mit Elfen und Waldmurmeltieren zu tun. Dann aber, bei einem flüchtigen Blick über die Pfeiler hinweg, die den Hof begrenzten, sah er eine vielköpfige Schar mit schwarzen Jacken bekleideter Schlittschuhläufer herangleiten.
    Schleunigst verschwand Peter unter dem Tisch, zwischen fetten Waden und Schützengrabenfüßen. Er bemerkte, dass etwa die Hälfte dieser Leute ihre Hände beim Essen entweder auf ihren eigenen Geschlechtsteilen oder auf denen ihres Nachbarn ruhen ließen. Und er teilte seinen Zufluchtsort mit einem armseligen, namenlosen Weib, das kniend auf dem Eis hockte und Männern wie Frauen zwischen gespreizten Schenkeln zu Diensten war, so oft sich ihr eine Hand mit einer Münze entgegenstreckte – die Hand eines Menschen, der die Frau unter dem Tisch nicht einmal zu Gesicht bekam.
    Die Schwarzjacken hatten inzwischen den Innenhof betreten. Sie stellten den

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