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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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noch klein, aber sie breiten sich aus. Von den höchsten Türmen aus wirken die Außenbezirke wie brennende Stoppelfelder oder wie ein langsam vorrückendes Grasfeuer.«
    »In ein paar Tagen«, sagte Jackson Mead, »wird es draußen vor diesen Fenstern Flammensäulen geben, die bis zu den Wolken reichen. Und der Himmel, von Qualm und Rauch verdunkelt, wird so schwer über der Stadt liegen wie ein Gewölbe.«
    »Soll ich den neuen Bürgermeister verständigen?«
    »Weiß er es denn noch nicht?«
    »Nein, allem Anschein nach nicht.«
    »Dann lassen Sie ihn. Er soll es selbst herausfinden.«
    »Wenn wir ihn jetzt warnen, dann schafft er es vielleicht, alles zu stoppen.«
    Jackson Mead schüttelte bedächtig den Kopf und wandte sich seinem Untergebenen zu. »Doktor Mootfowl«, sagte er. »Wir haben bisher immer dicht vor dem Ziel versagt. Es lag jedoch nie an unserer mangelnden Befähigung, sondern eher an den ungünstigen Umständen.«
    »Wie soll ich das verstehen, Sir?«
    »Es stimmt doch, dass die von Ihnen so glänzend hervorgebrachten Gebete um Gnade sich akkumulieren, aber doch haben sie bis jetzt noch nicht das Ereignis herbeigeführt, das unserem Unternehmen zum Erfolg verhilft. Wir sind jetzt so weit, dass unsere Brücke geschlagen werden kann. Aber wenn nicht irgendetwas geschieht, das uns näher an das gegenüberliegende Ufer heranzieht, dann haben wir nicht die Spur einer Chance.«
    »Sie meinen die Feuersbrunst?«
    »Nicht das Feuer selbst, sondern das, was sich in ihm abspielt. Die hohe Energie und der Verfall, die Abstraktionen von Licht und Feuer und die Extreme, zu denen sie die Seele der Menschen treiben – all dies stellt die von uns ersonnenen Mechanismen bei weitem in den Schatten, mögen sie noch so schön sein. Die Stadt brennt, weil ihre Zeit abgelaufen ist. Alles in der Welt, mein lieber Mootfowl, reduziert sich am Ende auf Liebe und Kampf, die sich, wenn sie heiß genug sind, um offene Flamme zu werden, gemeinsam erheben und vereinigen. Sollte das Feuer eine menschliche Seele zum höchsten Zustand der Gnade emportragen, dann ist der Augenblick gekommen, unsere Brücke zu schlagen.«
    »Ich verstehe«, sagte Mootfowl.
    Aus dem Schatten tauchte Cecil Mature auf. »Das Feuer hat den Dreißig-Meilen-Ring überschritten«, berichtete er. »Bisher gibt es keine Erklärung für die plötzliche Beschleunigung.«
    »Und was ist mit Peter Lake?«, fragte Jackson Mead und wandte die Augen von dem Panorama ab.
    Cecil schüttelte den Kopf und kniff seine Schlitzaugen zusammen. Er schnaufte vernehmlich, dann musste er niesen. »Er ist spurlos verschwunden«, sagte er.
    *
    Abby hatte so lange still gelegen, dass ihrer eigenen Mutter ihr Tod erst bewusst wurde, als auf dem Bildschirm des Monitors nur noch eine gerade Linie zu sehen war. Das Gerät schlug automatisch Alarm. Schnell kamen Krankenschwestern und Ärzte gelaufen, aber trotz all ihrer Bemühungen und obwohl sie auf leisen Rädern allerlei Maschinen ins Zimmer rollen ließen, konnte Abby Marratta nicht wieder zum Leben erweckt werden. Sie hatte wahrscheinlich genug von Maschinen, nachdem sie so lange an sie angeschlossen gewesen war. Der elektronische Pfeifton des Monitors, der alle Lebensfunktionen überprüft hatte, klang in Virginias Ohren wie die Musik, die das Ende der Welt ankündet. Als der Apparat schon längst abgeschaltet war und ein weißes Laken Abbys Gesicht bedeckte, da hörte Virginia den Ton noch immer.
    Mrs Gamely ließ den Kopf sinken und weinte. Sie hatte einfach nicht glauben wollen, dass ein kleines Kind nach einem so kurzen Leben noch vor ihr sterben würde. In ihrer Sicht der Dinge passte das nicht zu einer Zukunft, von der sie bis zum Schluss gemeint hatte, sie würde ihrer Enkelin gehören.
    Virginia rang mühsam nach Atem. Sie fühlte sich so elend, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder Augenblicke ohne Schmerz und Grauen zu erleben. Sie starrte auf das Tuch, unter dem Abby lag, und versuchte, aus dem einfachen Muster des Gewebes einen Sinn abzulesen, aber sie konnte keinen finden. Sekunden verstrichen in reglosem Schweigen, dann lange Minuten und lange Stunden. Nichts geschah. Es gab keine Erlösung, keine Erweckung, kein Wunder.
    Und dann erschien ein überdeutliches, strahlendes Bild vor Virginias Augen. Sie schämte sich, eine so lebendige Vision in sich zu beherbergen, wo doch die ganze Welt trostlos grau hätte sein müssen, und kam sich vor, als hätte sie während einer tiefernsten Predigt laut

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