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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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war. Während der Wartezeit wohnten wir an der West Side, an der Grenze zu Chelsea, unten am Fluss. Manchmal sind wir in diesem Park spazieren gegangen. Den anderen Kindern erzähltest du, diese Statue hier sei dein Vater. Dein Vater kam nie zurück. Er war schon vor Monaten gefallen, und die Nachricht hatte uns nur nicht erreicht.«
    »Wie hast du es erfahren?«, fragte Virginia.
    »Als seine Division heimkehrte, fuhren wir nach Black Tom, wo die Truppen an Land gingen. Du warst sehr aufgeregt. Ich hatte dich schön angezogen, und du trugst den ganzen Tag über einen kleinen Blumenstrauß mit dir herum, sogar dann noch, als du es erfahren hattest. Du wolltest den Strauß auf keinen Fall hergeben. Erst nachdem du an jenem Abend eingeschlafen warst, konnte ich ihn dir aus der Hand nehmen. Übrigens erfuhr ich es von Harry Penn.«
    »Harry Penn?«
    »Ja, er war der Kommandeur des Regiments, in dem dein Vater diente. Alle Männer vom Coheeries-See waren zu einer Einheit zusammengefasst. Harry Penn weinte bei deinem Anblick. Erinnerst du dich nicht?«
    »Nein, wirklich nicht«, sagte Virginia und schüttelte den Kopf.
    »Hat er es denn niemals erwähnt? Du kennst ihn doch schon seit vielen Jahren.«
    »Er hat mich nie entlassen, obwohl ich eine ganze Menge angestellt habe. Vielleicht ist das seine Art, die Dinge zur Sprache zu bringen.«
    »Er war deinetwegen so erschüttert, Virginia! Du warst außer dir vor Freude, aber er musste dir sagen, dass dein Vater tot ist. Es brach ihm das Herz. Das war im Frühsommer. Du wurdest noch am selben Tag krank und hattest dann bis zum Einbruch des Winters Fieber. Du wolltest mit aller Macht zu deinem Vater, und mir wäre es wohl ähnlich ergangen, aber ich musste mich ja um dich kümmern.«
    »Falls das der Grund dafür sein sollte, dass Harry Penn immer seine Hand über mich gehalten hat – was ist denn dabei herausgekommen?«, fragte Virginia.
    »Wenn du die ganze Zeit über nicht einmal seine Beweggründe gekannt hast, wie kannst du dann annehmen, die Folgen zu kennen? Ein Akt der Barmherzigkeit ist wie eine Heuschrecke: Sie schläft so lange, bis ihre Zeit gekommen ist. Niemand hat je behauptet, du würdest lange genug leben, um die Folgen deines Handelns zu sehen oder um die Garantie dafür zu erhalten, dass du nicht für alle Zeiten im Dunkeln herumirren musst oder dass alles hübsch ordentlich erwiesen und erforscht sein wird wie in der Wissenschaft. Nichts dergleichen! Jedenfalls nicht, was die Dinge betrifft, auf die es ankommt. Ich habe dich nicht großgezogen, damit du dich immer nur auf festem Boden bewegst. Ich habe dir nicht beigebracht zu denken, dass alles von uns kontrolliert oder verstanden werden muss. Oder habe ich das etwa doch getan? Wenn es so wäre, dann hätte ich falsch gehandelt. Und wenn du es nie darauf ankommen lässt, dann werden die Mächte, die du jetzt von dir weist, weil du sie nicht mit dem Verstand erklären kannst, einen Affen aus dir machen, wie die Leute zu sagen pflegen.«
    »Das haben sie bereits getan.«
    »Nun gut, Virginia«, sagte Mrs Gamely. »Du hast ein wenig versagt, aber du bist ja noch am Leben. Mag sein, dass du keinen Weg findest, um dein Kind zu retten. Aber versuchen musst du es trotzdem! Das bist du Abby schuldig, und es ist auch ganz allgemein deine Pflicht.«
    Es schneite jetzt sehr heftig, und wie immer, wenn der Schnee ernst macht, war die Luft von einem leisen Zischen erfüllt.
    Mutter und Tochter umarmten sich.

Stadt im Licht
    A nfänglich merkten nicht einmal die Feuerwehr und die Polizei, dass etwas nicht stimmte. Die Besucher der Aussichtsplattformen auf den Wolkenkratzern, die bis zu einer Meile hoch waren, sahen in der grenzenlosen Ferne Flammensäulen, gingen aber wie alle Besucher hochgelegener Orte davon aus, dass dort unten auf der Erde alles unter Kontrolle war.
    Die Flammensäulen, die über der Stadt der Armen in den Himmel ragten, wurden von den Behörden übersehen, weil alle Verantwortlichen wie gebannt auf die Aktivitäten Jackson Meads starrten. Zudem waren Feuer in der Stadt der Armen nichts Ungewöhnliches. Im Sommer wie im Winter schwelten dort Brände, als entzündete sich die Stadt ständig selbst. Diesmal schlugen die Flammen jedoch höher, und sie züngelten an viel mehr Stellen gleichzeitig. Während sich die Menschen in anderen Teilen der Stadt vor dem Frost in komfortable Häuser verkrochen, mit spielenden Kindern und wintermüden Hunden, die neben dem Kamin schliefen, schlug in den Straßen

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