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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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der Armen eine Armee los.
    Zwei Tage nach Weihnachten tanzten junge Männer und Frauen im Plaza , Lastenhubschrauber donnerten über den Hafen, die Brücken in Brooklyn und Queens waren in den Lichterglanz des abendlichen Verkehrs gebadet, und die Fabriken hatten ihre rhythmische Arbeit wieder aufgenommen. Rechtsanwälte, die nie zum Schlafen kamen, saugten bündelweise Fakten und Verordnungen in sich hinein und spuckten simultan rund um die Uhr Argumente aus. Tief unter der Erde plagten sich Reparaturkolonnen mit Rohrleitungen und Kabeln ab, damit die Stadt über ihnen Licht und Wärme hatte. Sie bewegten sich mit der unermüdlichen Zielstrebigkeit von Panzerbesatzungen in einer Schlacht. Aus Leibeskräften mühten sie sich, zehn Fuß lange Hebelarme zu bewegen; sie waren Explosionen und Feuer ausgesetzt, schaufelten wie wild, hasteten in kleinen Gruppen und in ganzen Bataillonen durch dunkle Tunnel, auf dem Kopf eine auf- und abhüpfende Grubenlampe, deren Licht ihre besudelten, zeitlosen Gesichter erhellte. Polizisten waren überall in der Stadt in mörderische Auseinandersetzungen verstrickt, Devisenhändler bedienten mit jeder Hand sechs Telefone, Gelehrte saßen in ein und demselben Saal der Bibliothek über ein Buch gebeugt, aber während von oben der stetige Schein von tausend einzelnen Lampen auf sie fiel, war jeder für sich an tausend verschiedenen Orten allein. Und im Plaza wurde getanzt. Dort gab es Frauen in weißen oder lachsfarbenen Gewändern und Männer in Schwarz und Weiß mit Schärpe. Geigenspieler mit schütterem Haar, bleistiftdünnen Schnurrbärten und verblüffend nichtssagenden Gesichtern sorgten im Innenhof mit seinen Marmorsäulen für Musik. Die Decke und die Säulen waren reichlich mit Wimpeln und Fähnchen in Rosa und Gold geschmückt und tauchten die Tanzenden in einen sommerlichen Glanz. Über den Stuhllehnen hingen Biber, Nerze und andere Pelze; sie fühlten sich kalt an, als hätten sie sich der Erinnerung an den Frost bewahrt. Draußen trotteten Kutschen vorbei, und unstete Winde aus dem Norden zausten an den mit Eiszapfen bedeckten Bäumen, sodass es klang wie Kristallglöckchen. Doch mit der Eleganz und den feinen Bewegungen, mit Lebensfreude, Tanz und Gesundheit sollte es bald ein Ende haben.
    Irgendwo in der Stadt der Armen, wo die Straßen und Wege in mit teebraunem Gras bewachsenen Ruderalflächen versickerten, welche mit Schlaglöchern übersät waren, hauste in einer windschiefen Bruchbude ein alter Mann mit seiner Frau. Die beiden hatten sich mit einem kleinen Laden durchs Leben geschlagen. Zwar waren die Holzregale immer fast leer, aber dann und wann gelang es ihnen, eine Anzahl Tüten mit Reis und Zucker aufzutreiben oder ein paar Limonadenflaschen voll Kerosin, einige gebrauchte Haushaltsartikel und ein wenig verwelktes, unansehnliches Gemüse. In dem einzigen Zimmer brannte eine Lampe, die mit Rindertalg und Altöl gespeist wurde. An den kalten Tagen zogen sich die beiden Alten alle Kleidungsstücke an, die sie besaßen, und flüchteten sich hinter einen handgenähten Vorhang aus Sackleinen im rückwärtigen Teil ihres Ladens. Manchmal zog der Greis los, um ein paar Holzreste aufzulesen, die er dann in einer Kaffeekanne verbrannte. Die beiden froren zu sehr, um zu zittern. Ihre Lippen waren blau. Sie rührten sich nicht, um den Frost nicht zu kränken, und klammerten sich an die Hoffnung, er möge sie am Leben lassen. Aber dadurch wurde der Bann des kalten Winters nicht gebrochen. Er dauerte noch an, nachdem sie längst nicht mehr am Leben waren. Sie fielen indes nicht der Kälte zum Opfer, sondern starben an der Hitze.
    Ungefähr um die Zeit, als das Tanzvergnügen im Plaza seinen Höhepunkt erreichte und als sich Frauen mit bloßen Schultern beim Walzer sinnlich an ihre Partner drängten, vernahmen der alte Mann und die alte Frau ein Brausen, das rasch anschwoll und halb wie Brandung, halb wie Feuer klang.
    Durch die Geräusche des Windes hindurch hörten sie die Schritte von Menschen, die mit langen Sätzen näher kamen wie Tiere, die mit Riesensprüngen einem lodernden Waldbrand zu entkommen suchen.
    Schon waren die Plünderer zur Stelle. Jemand klopfte an die Tür des kleinen Ladens. Der alte Mann schluckte schwer. Vor lauter Furcht konnte er sich nicht rühren. Seine Frau warf ihm einen Blick zu und begann zu weinen. In steter Folge rannen ihr die Tränen über die Wangen, eine nach der anderen. Doch bevor eine von ihnen auf den Stoff des Kleides tropfen konnte,

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