Wintermaerchen
gelacht. Was sie sah, war schön und quicklebendig, ein Wachtraum, der sie in eine andere Welt versetzte.
Ein prachtvoller, strotzender Sommer. Auf dem Hafen lagert dichter, heißer Dunst, der alles in Sepia und Schwarz taucht. Aber was weiß ist, leuchtet durch den Kontrast ungewöhnlich stark und scheint schwerelos im sonnendurchglühten Dunst zu schweben. Wie aus dem Nichts erscheint eine Fähre mit hohem, dunklem Schlot und nähert sich langsam den weiß getünchten Pfählen ihres Anlegeplatzes unweit der Battery.
Ungläubig schaut Virginia zu. Dies ist kein Traum! Es ist stärker als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hat. Aus der Position der Sonne – und aus der Hitze – schließt sie, dass es Juli sein muss, aber ein Juli, der schon neunzig oder hundert Jahre zurückliegt. Denn die Fähre ist blitzblank und noch ganz neu. Flusskähne fahren vorbei, die ganz anders aussehen als die abgetakelten Museumsstücke, die heutzutage müde und demütig im Hafenwasser dümpeln, sofern es nicht gefroren ist.
Die Passagiere des Fährschiffes drängen sich auf dem Vordeck. Sie warten darauf, an diesem längst vergangenen Julimorgen an Land gehen zu können. Schweigend beobachten sie, wie sich der Abstand zwischen Schiff und Landungsbrücke verringert, als stünden sie selbst oben auf der Brücke am Ruder. Dutzende von weißen Sonnenschirmen, leicht wie die schwebenden Samen von Pusteblumen und an den Rändern mit Langetten verziert, drehen sich ungeduldig und spenden ein wenig Kühle. Männer ohne Jacketts leuchten in ihren sorgfältig gebügelten Leinenhemden wie weiße Laternen. Geringschätzig blicken sie vom Pier zum Rudergänger hinauf, als wollten sie gegen das alles andere als perfekte Anlegemanöver protestieren. Aber schon stößt der Bug der Fähre gegen die Laderampe. Die Maschinen werden ausgekuppelt, und aus seitlichen Auslässen im Rumpf schießen ganze Wasserfälle, dass es klingt, als seufze das Schiff vor Erleichterung. Die Ladepforten werden heruntergelassen und bilden einen festen, begehbaren Steg aus Eisen. Alles strömt an Virginia vorbei, der ganz hinten in der Menschenmenge eine junge Frau auffällt, die sie nicht kennt oder wiedererkennt. Dennoch folgt sie diesem zarten, hübschen Mädchen, das kaum älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre sein kann, über die Rampe und durch die ganze Fährstation hindurch.
Virginia ist allein schon von ihrer Präsenz zutiefst berührt und beglückt. Doch dann geht das junge Mädchen durch ein Eisentor, das Virginia nicht passieren darf, und verschwindet in einer der dämmrigen, steilen Straßenschluchten, in denen der Sommer summt, als wäre sein Licht ein einziger Schwarm rastlos flirrender Stechmücken. Als sie das Mädchen entschwinden sieht, möchte sich Virginia am liebsten auf die Knie werfen und weinen, denn solange von dem Mädchen wenigstens noch der schon fast unwirklich anmutende, hüpfende Fleck der weißen Bluse zu sehen gewesen war, hatte sie sich von Dankbarkeit und Zuneigung durchströmt gefühlt.
Doch nun saß sie hier, blickte auf die Umrisse eines kleinen Körpers, die sich unter dem Laken abzeichneten, und fühlte nichts als schreckliche Verbitterung. Der Kontrast zwischen dem starken, tröstlichen Bild, das sich so klar vor ihrem inneren Auge abzeichnete, und der Tatsache, dass ihre Tochter Abby tot vor ihr lag, überstieg ihre Kräfte. Sie brauchte Hardesty. Wo in Gottes Namen war Hardesty?
*
»Wissen Sie«, sagte Hardesty zwischen zwei Atemzügen, während er in der abgestandenen Luft eines dämmrigen U-Bahn-Tunnels hinter Peter Lake herlief, »wenn man so eine kleine Wertmarke kauft, dann erwirbt man sich damit nicht nur das Recht, hier unten herumzulaufen.«
»Ich weiß das«, antwortete Peter Lake und lief so leichtfüßig weiter, dass Hardesty kaum mit ihm Schritt halten konnte.
»Was soll denn die ganze Rennerei?«
»Haben Sie sie nicht gesehen?«
»Wen?«
»Die Kerle mit den schwarzen Jacken!«
Hardesty keuchte. Es war kein Kinderspiel, sich mit diesem Mechaniker zu unterhalten, der für einen Olympiateilnehmer hätte einspringen können, denn er flog geradezu über die Schwellen. Das Laufen schien ihn nicht nur nicht anzustrengen, sondern er hielt sich anscheinend sogar um seines Begleiters willen zurück.
»Meinen Sie die kleinen Kerle da hinten?«, rief Hardesty.
»Ja, es sind Killer, Räuber und Brandstifter. Sie sind hinter uns her.«
Sie machten kurz Halt. Nachdem er mehrmals tief Luft geholt hatte,
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