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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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unlösbaren Finanzprobleme der Stadt zu finden. Die Uhr hatte gerade neun geschlagen. Als er durch das Fenster seines Büros blickte, war ihm aufgefallen, dass er die Sterne nicht sehen konnte, aber er nahm an, dies sei den dicken Schneewolken zuzuschreiben, die am Himmel aufgezogen waren.
    Auf einmal stürzte einer seiner neuernannten Assistenten, ohne anzuklopfen, ins Zimmer. Tränen rannen ihm über das Gesicht.
    »Was ist denn los?«, fragte Praeger.
    Der fassungslose junge Mann wollte antworten, stattdessen brach nur ein tonloses Schluchzen aus ihm heraus, und die Tränen flossen noch reichlicher.
    »Was soll dieses Theater?«, schrie Praeger ihn eher erschrocken als wütend an.
    Da erschien hinter dem jungen Assistenten Eustis P. Galloway, der Chef der Feuerwehr. Er war ein gewaltiger Mann von großer Autorität und Würde. Galloway legte den Arm um die Schultern des Jungen und gab eine Erklärung ab, die Praeger elektrisierte:
    »Die Stadt brennt«, sagte er.
    »Wo?«
    »Überall.«
    »Was meinen Sie mit überall ?«, fragte Praeger und schaute aus dem Fenster. Die Gebäude in der Nachbarschaft waren zwar noch unversehrt, aber der Himmel hinter ihnen glühte orangerot, wie auf den apokalyptischen Gemälden, die immer unbeachtet in den Kellern von Traditionsvereinen hängen. Selbst aus dieser großen Entfernung bot er einen außerordentlich grandiosen Anblick. Selbst Galloway, der starke Riese Galloway, der Felsen von Gibraltar, hatte ein leichtes Beben in der Stimme.
    Jetzt verschwand Praeger der Mensch, und Praeger de Pinto der Amtsinhaber kam zum Vorschein. Diese unvermittelte und magische Trennung und Erhöhung war ein Zug, der früher Stammeshäuptlingen und Herrschern von Sippen und Reichen zu Eigen gewesen war. Die Amtsgewalt umgab Praeger mit einer Aura der Macht; sie verlieh ihm Härte und kalte Entschlossenheit, die es ihm leicht gemacht hätten, sein eigenes Leben oder auch das seiner Familie hinzugeben, denn er war nicht mehr er selbst. Er war jetzt nur noch Bürgermeister, und die Verantwortung dieses Amtes versetzte ihn in einen Zustand der Selbstvergessenheit, der seine Kräfte verstärkte, sein Urteilsvermögen schärfte und alle Furcht für immer von ihm nahm.
    Der Bürgermeister wandte sich an seinen Feuerwehr-Chef: »Was haben Sie bis jetzt veranlasst?«
    »Jede Brigade schützt ihren Abschnitt, so gut sie kann, und achtet darauf, natürliche Feuerschneisen auszunützen. Aber das Feuer breitet sich viel schneller aus, als man eigentlich erwarten dürfte. Man könnte meinen, zehntausend Brandstifter trieben da draußen ihr Unwesen – eine Meinung, die im Übrigen durch die Realität gedeckt wird.«
    »Was ist mit den Reservisten? Und mit der Unterstützung aus anderen Städten?«
    »Wir haben alle Städte im Umkreis von hundert Meilen um Hilfe angerufen. Selbst haben wir keine Reserven mehr, sie sind alle auf der Straße.«
    »Gut«, sagte Praeger. Sein Büro füllte sich währenddessen mit Mitarbeitern und Behördenchefs. Er teilte sie für die verschiedenen Aufgaben ein und gab ihnen Anweisungen.
    »Erstens: Holen Sie einen Lastwagen und verlegen Sie das Funktelefon und den drahtlosen Fernschreiber in das Obergeschoss des Fifth Grand Tower . Werfen Sie alle, die dort sind, raus und richten Sie eine Einsatzzentrale ein. Zweitens: Richten Sie dem Polizeichef aus, er soll zu mir kommen und eine ständige Verbindung zu allen Polizeirevieren aufrechterhalten. Rufen Sie dann den Gouverneur an. Sagen Sie ihm, dass ich ihn so bald wie möglich sprechen will. Im Augenblick fordere ich von ihm, dass er die Miliz mobilisiert. Sagen Sie ihm, er soll so viele Truppen wie möglich von überallher zusammentrommeln und sie in die Stadt schicken. Noch vor ihrem Eintreffen werde ich Einsatzbereiche festsetzen. Wenn er Anstalten macht, sagen Sie ihm, dass hier absoluter Notstand herrscht und dass die ganze Stadt in Flammen steht. Drittens: Schicken Sie alle Behördenchefs zur Einsatzzentrale. Viertens: Organisieren Sie den Nachschub. Wir brauchen Feldbetten, Decken, Nahrungsmittel, Stühle und Schreibtische für den Tower .«
    Ein Dutzend Blätter wurde von einem Dutzend Notizblöcken gerissen, und schon waren Praegers Untergebene unterwegs. Der Bürgermeister und der Chef der Feuerwehr begaben sich zur Aussichtsplattform der neuen Einsatzzentrale. Auf dem Weg durch die kleine Grünanlage vor dem Rathaus murmelte Galloway beständig Anweisungen in sein Sprechfunkgerät. Turmhohe Wolkenkratzer bildeten einen

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