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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Schatzkammer aufzubrechen, trat Peter an das Krankenbett und zog das Leichentuch zurück. Er blickte eine kleine Weile unverwandt auf das tote Kind hinab, dann berührte er Abbys Stirn mit zwei Fingern der linken Hand und schaute ihr in die Augen. Hardesty dachte schon, dieser Mann – Mechaniker, Obdachloser oder was immer er sein mochte – sei im Begriff, seine Tochter wieder zum Leben zu erwecken, aber ihm wurde schnell klar, dass Peter dies nicht einmal zu versuchen beabsichtigte.
    Der Ernst auf Peters Gesicht wich für kurze Augenblicke einem kaum merklichen Lächeln. »Dies ist das Kind …«, sagte er. »Dies ist das Kind, das mir entgegengeflogen kam! Und es ist auch das Kind aus dem Treppenhaus. Aber das ist lange, lange her. Ich hatte immer geglaubt, es sei ein Junge gewesen, aber was macht das schon. Dieses kleine Mädchen war blind, und ich sah, wie es starb – stehend. Es wusste nicht, dass Menschen liegend sterben dürfen.«
    Virginia wollte etwas sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Dort stand ein Mann vor ihr und sprach über ihren Traum, als sei es keiner gewesen, sondern die Realität einer anderen Zeit.
    In diesem Moment gingen die Lichter aus, und die ganze Stadt lag plötzlich im Dunkeln da. Sogar die turmhohen, sonst so strahlenden Bauten in der Ferne waren nur mehr schwarze Klötze mit verschwommenen Umrissen. Patienten schrien, und Krankenpfleger rannten sich in den Gängen gegenseitig über den Haufen. Vom Schein der künstlichen Beleuchtung nicht mehr gedämpft, war die Feuersbrunst viel heller als zuvor und hell genug, um den Raum zu erleuchten. Aus einer Entfernung von mehreren Meilen reflektierten Rauchwolken den Feuerschein, der nun flackernd Gesichter und Wände bestrich. Die steilen Qualmsäulen waren schon so hoch, dass die Stadt zwergenhaft klein wirkte.
    »Ich muss mich um die Maschinen bei der Sun kümmern«, verkündete Peter Lake. »Bei Stromausfall können die alten Aggregate einspringen, vorausgesetzt, jemand sorgt dafür, dass sie funktionieren. Die Generatoren müssen Strom erzeugen, und die Turbinen sollen mit voller Drehzahl laufen. Ich muss sie in Gang halten. Es bleibt mir keine andere Wahl.«
    *
    Von seiner Macht ebenso verwirrt wie von seiner Machtlosigkeit, ging Peter Lake durch die dunklen Straßen unter einem Himmel, an dem der Feuerschein pulsierte. Indem er eine Hand gegen die Wunde presste, konnte er die Blutung fast gänzlich unterbinden. Aber die Schmerzen waren ziemlich stark, und er fürchtete, sein Herz könne plötzlich versagen. Jedes Mal, wenn er einen Short Tail erblickte, schleuderte er ihn gnadenlos durch die Luft, sodass er die Straße vor Peter wie eine Fackel erhellte. Zwar hielten sie ihn jetzt für schlechthin unverwundbar, aber er selbst sagte sich: Was nützt mir diese Unverwundbarkeit, wenn ich nicht einmal ein Kind vor Leid bewahren kann?
    Als er an der Houston Street nach Westen abbog, kam ein halbes Dutzend Short Tails über ein leeres Grundstück auf ihn zugelaufen. Er hob sie hoch und verwandelte sie so flink in Kometen, dass sie gar nicht mehr mitbekamen, was ihnen geschah. Beim Überqueren der Chambers Street bemerkte er eine weitere Rotte. Der letzte Bandit der Gruppe war schon eine halbe Meile den Broadway hinaufgelaufen, als Peter sie allesamt mit der linken Hand packte und über der Manhattan Bridge wie Feuerwerkskörper verglühen ließ.
    Bei der Sun war es genauso finster wie beim Ghost auf der anderen Seite des Printing House Square. Die Journalisten arbeiteten bei Kerzenlicht an ihren Artikeln, und in der Empfangshalle boten Reporter, Setzer und Laufburschen, die mit brennenden Kerzen in der Hand hin und her eilten, ein seltsames Bild.
    »Wo bin ich?«, entfuhr es Peter Lake. »In einem Kloster?« Aber die Menschen, die den Innenhof überquerten oder die Treppe hinaufstiegen, würdigten ihn keiner Antwort.
    »In der ganzen Stadt gibt es keinen Strom, Mr Überbringer«, informierte ihn ein Wachmann.
    »Das sehe ich selbst«, erwiderte Peter Lake ungnädig. »Was ist mit unseren Maschinen?«
    »Sie schaffen es nicht, sie in Gang zu bringen«, antwortete der Mann.
    Die Wunde schmerzte fürchterlich, als Peter die Treppe hinunterging. Die Mechaniker und Lehrlinge im Maschinenraum arbeiteten ebenfalls beim Schein von Kerzen. Als sie ihn erblickten, kamen sie mit ölverschmierten Gesichtern herbeigelaufen, um ihm mitzuteilen, dass sie sich schon seit Tagen abmühten, die Maschinen instandzusetzen. »Alles restlos blockiert!«,

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