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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Schoß sie saß, rief ihr ungeachtet des Fahrtwindes ein paar erklärende Worte ins Ohr. Dies sei eine holländische Erfindung, sagte er, und in diesem einen Satz schien alles enthalten zu sein, was es über die Geschwindigkeit des auf messerscharfen Kufen über spiegelglattes Eis gleitenden Bootes zu berichten gab. Willa gab sich ohne Frage damit zufrieden. Es war holländisch, das genügte ihr. Warum sich weiter den Kopf darüber zerbrechen? Willa war ein Kind. Sie klammerte sich an die Magie des Wortes.
    Nicht so der Telegrammbote, der mit einer Depesche für Isaac Penn in seinen schnellen Segler kletterte und in der Dunkelheit über die Eisfläche raste, dem östlichen Ufer entgegen. Dort erstrahlte das Sommerhaus der Familie Penn in weihnachtlichem Lichterglanz. Anfänglich schienen diese funkelnden Lichter nicht näher zu kommen, aber dann wurden sie langsam größer, und am Ende war es dem Telegrammboten, als stürzte er mit Lichtgeschwindigkeit auf sie zu. Er musste sein Boot wie ein galoppierendes Pferd zügeln; knirschend bohrte sich die Bremse ins Eis. Der Gleiter beschrieb einen kleinen Bogen und kam mit schlagendem Segel zum Stillstand. Aber noch immer war es eine halbe Meile bis zum Anlegesteg der Penns. Der Flitzer des Telegrammboten legte diese Strecke fast mit Kriechgeschwindigkeit zurück. Mehrmals vergewisserte sich der Mann, ob der Fahrtwind den knisternden gelblichen Umschlag mit der Botschaft für den alten Penn nicht aus der Tasche seiner Joppe gerissen hatte.
    Es war bekannt, dass Isaac Penn Anfälle finsterster Niedergeschlagenheit und tiefster Melancholie hatte, aber man wusste auch, dass ihn bisweilen eine geradezu himmlische Seelenruhe überkam, die sich zu Höhenflügen voller Glück und Freude steigern konnte. Seine Gemütszustände waren ansteckend. Wenn Isaac Penn in düsterer Stimmung war, wirkte die Welt grauer als London an einem Regentag. Packte ihn jedoch der Übermut, so war sein Haus von lärmendem Jubel erfüllt.
    An jenem Abend leuchtete das Haus am Coheeries-See wie ein Lampion im Schein einer Kerze. Es war der Vorabend des Weihnachtsfestes. Isaac Penn vollführte einen Tanz wie ein wildgewordener Ziegenbock. Weit nach vorn gebeugt drehte er sich mit der kleinen Willa im Kreise, boxte zum Spaß mit Harry oder rollte vor dem Kamin den Läufer zusammen, um mit den Kindern Rad zu schlagen und Handstand zu üben. Alle machten mit oder sahen zu, die Dienstboten und die Gamelys aus der Nachbarschaft. Knie flogen in die Luft, Kleider verrutschten und entblößten dünne Kinderbeinchen. Überall roch es nach Glühwein, Stollen und Keksen. Das ganze Haus war warm und hell. Sogar die Katzen tollten vergnügt hin und her.
    Der Telegrammbote klopfte an die Tür, und als ihm geöffnet wurde, trat er nicht sogleich ein, sondern verharrte noch einen Augenblick, von Schnee und Eis bedeckt wie ein Busch im Winter. Als er dann über die Schwelle trat, legte er schützend eine Hand über die Augen. Das helle Licht traf ihn wie ein Paukenschlag. Er machte ein paar ziellose Schritte wie ein Käfer, den Kinder in einen engen Käfig gesteckt haben, doch gleich darauf wurde ihm ein Becher voll dampfend heißem Punsch in die Hand gedrückt. Während die kleinen Eiszapfen an seinem Schnurrbart schon zu schmelzen begannen, sagte er über den Rand des Bechers hinweg die drei Worte: »Telegramm für Sie!«
    Gott, war der gute Mann überrascht, ja sogar erschrocken über die Reaktion, die seine Worte auslösten! Alles tanzte und applaudierte wie ein Haufen Irrer. »Ich hab’ nur gesagt: Telegramm für Sie!«, protestierte der Bote. »Nur ein einziges!«
    »Gott segne Sie!«, schrie die kleine Meute und applaudierte erneut, dass dem armen Boten, der soeben noch wie ein fliehender Geist über den nächtlichen See gehuscht war, Hören und Sehen verging. »Ein Telegramm! Ein Telegramm!«
    Verrücktes Volk, dachte der Mann bei sich. Verrückt wie alle Leute aus dem Süden. Wortlos überreichte er ihnen das Telegramm.
    Harry öffnete es und las vor: »Kann Weihnachten nicht zum Coheeries-See kommen. Gehe mit Peter Lake zum Ball bei Mouquin’s. Ich liebe euch alle. Das Leben ist herrlich. Viele Küsse, besonders für Willa. Beverly.«
    Isaac Penn stand in der Mitte des Zimmers. Verwundert runzelte er die Brauen. Noch immer erklang die fröhliche Tanzmusik. Mouquin’s ? Wie konnte Beverly bei Mouquin’s tanzen? Es war ständig überfüllt, und außerdem war es dort heiß. Wie konnte sie sich das antun? Und

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