Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
tausend Fuß weiter, bis es fast genau in der Mitte zwischen beiden Flussufern mit ziemlicher Kränkung liegen blieb. Peter und Beverly standen auf dem Oberdeck und fragten sich, was hier vorging.
    »Los!«, sagte der Heizer und zog an der Leine des Sicherheitsventils. Eine Dampfsäule schoss mit so lautem Zischen in den Himmel, dass es noch am nördlichen Ufer des Champlain-Sees zu hören war. Aber als der Lärm verklungen war, saßen Mannschaft und Passagiere mit ihrem Schiff noch immer hoch oben auf dem Eis im Trockenen. Die Schaufelräder drehten sich nicht mehr. Und das offene Wasser, das die Brayton Ives mit einem Sprung verlassen hatte, lag so fern, dass es nicht mehr zu sehen war. Das Schiff glich einem Spielzeug in einem winterlich dekorierten Schaufenster.
    Ein Matrose vorn am Bug machte ein Zeichen, aber der Kapitän gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle sich nicht von der Stelle rühren. Alle verharrten reglos und lauschten. Die Blicke wanderten zwischen der weißen Eisdecke auf dem Fluss und dem mit erhobenen Armen dastehenden Kapitän hin und her. So verging eine Minute, eine zweite, dritte und vierte. Nach fünf Minuten waren die Ungläubigen überzeugt, dass der Kapitän das Schiff so lange aus dem Verkehr gezogen hatte, bis eine Kiste Dynamit aus West Point herbeigeschafft wäre. Aber der Kapitän blieb in derselben Pose oben auf der Brücke und wartete ab.
    »Schau!«, sagte Beverly. »Er lächelt!« Tatsächlich, der Mann lächelte zufrieden und ließ die Arme sinken. Die Mannschaft dachte schon, er würde sich mit Humor in die Niederlage fügen. Einige der Männer lachten. Der Kapitän drohte ihnen mit dem Finger und blickte über ihre Köpfe hinweg.
    Da richteten sich aller Augen nach Norden. Aus dieser Richtung erklang ein Geräusch wie der helle Knall einer Peitsche, der in einem Tal widerhallt. Ein schwarzer Spalt im Eis näherte sich behende dem Schiff. Der Kapitän hatte lange vor seinen Männern gewusst, was geschehen würde. Deshalb war er Kapitän.
    Plötzlich gab der Boden unter dem Schiff nach. Der dicke Eispanzer des Flusses war über eine Strecke von zwei Meilen geborsten. Krachend sank das Schiff in das hochaufspritzende Wasser zurück. Es wurde Dampf auf die Kessel gemacht, und weiter ging die Fahrt durch den klaffenden Spalt im Eis nach Norden. Dort schien es keine Menschen zu geben, sondern nur Berge, Seen, von Schilfgras überwucherte, schneebedeckte Steppen und Wintergötter, die mit Stürmen und Sternen spielten.
    *
    Jayga hatte zugeschaut, wie Peter Lake und Beverly den Schlitten bepackten, Athansor anspannten und, in Felldecken gehüllt, davonfuhren. Kaum waren die beiden weg, da lief sie zur nächsten Polizeiwache.
    »Das junge Fräulein ist mit ihrem Schwan über alle Berge!«, erzählte sie atemlos dem Beamten vom Dienst. »Ich wusste ja gleich, dass er nichts taugt. Nächtelang treibt er sich herum, der Schelm! Haben Sie mich verstanden?«
    »Nicht ganz«, erwiderte der Polizist. »Sind Sie gekommen, um eine Anzeige zu erstatten?«
    »Und ob! Das soll er büßen, der gewiefte Halunke!«
    Jayga war fest davon überzeugt, dass dies der richtige Tonfall war, den sie gegenüber der Polizei im Auftrag der Familie Penn anzuschlagen hatte. Und tatsächlich bewirkten die von ihr geschilderten Einzelheiten, dass der Sergeant sich interessiert so weit vorbeugte, dass sein Bäuchlein an der Schreibtischkante eine Quetschfalte bekam. Peter Lake habe unheimliche rote Augen, erfuhr er. Er könne, indem er mit der Peitsche knallte, kleine Blitze erzeugen, und sein Pferd vermöge sogar durch die Luft zu fliegen. Sie selbst, Jayga, habe gesehen, wie das Tier hoch oben um das Dach des Hauses gesegelt sei, während sein Herr drinnen bei der jungen Miss war. Sie habe das junge Fräulein angefleht zu bleiben, sie sei vor ihr niedergekniet und habe ihre Beine umklammert, ja sie habe sich sogar vor den Schlitten geworfen – vergeblich!
    Nachdem Jayga dem Polizisten eine halbe Stunde lang die Ohren taub geredet hatte, schrie sie unvermittelt: »Mein Gott, ich habe ja noch den Kuchen im Ofen!« Gleich darauf verschwand sie so blitzartig, dass sich der Polizist verwundert die Augen rieb, als hätte er geträumt.
    Es dauerte nicht lange, bis die Depeschen zwischen der Sun und dem Haus am Coheeries-See nur so hin- und herflogen. Der Telegramm-Bote hatte mehr zu tun als je zuvor während der Weihnachtstage. Immer wieder jagte er mit seinem Eissegler schnurgerade über den gefrorenen

Weitere Kostenlose Bücher