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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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kleine Pfropfen«, sagte Karla Werner. »Wie man sie auf Bäume setzt.« Sie brach für einen kurzen Moment ab. »Mein Vater war Gärtner«, erklärte sie. »Bei der Stadt. Ich liebe Blumen. Das ist das Einzige, was Freude macht. Er hat immer gesagt: Karla, du hast einen grünen Daumen.«
    Myriam schaute sich im Zimmer um. Keine einzige Pflanze war zu sehen.
    »Nein«, sagte Karla Werner ungeduldig, »nicht mehr. Ich konnte sie nicht sterben sehen, und mich um sie kümmern auch nicht. Ich habe sie auf den Friedhof gebracht. An die Gräber.«
    »Welche Gräber?«, fragte Henri und lehnte sich zurück.
    »Welche Gräber? Das wissen Sie nicht?«
    Weder Henri noch Myriam reagierten. Je weniger sie wussten und fragten, desto mehr würde sie erzählen. Es schien ihr plötzlich ein Verlangen zu sein. Henriette Winkler hatte das Geld am Ende umsonst gezahlt.
    »Zu Beginn des Krieges«, fing sie an, »war ich zwanzig Jahre, und Krankenschwestern wurden gesucht. Ich hatte keine Ausbildung, sondern habe einfach angepackt und alles gelernt. 1942 kam ich in das Lager nach Kelsterbach. Am Anfang waren dort nur wenige Menschen. Erst am Ende wurden es immer mehr. Vor allem Russen und dann natürlich die Frauen.«
    »Welche Frauen?«
    »Die ihre Beine nicht zusammenhalten konnten«, antwortete sie ungeduldig. »Die hier waren, um zu arbeiten. Stattdessen haben sie sich hingelegt, die Beine breitgemacht und sich dann gewundert, wenn ein Baby aus ihnen flutschte.«
    »Was passierte mit diesen Babys?«
    Sie schob den Kopf nach vorne. »Die meisten wurden überhaupt nicht geboren.«
    »Sie meinen, sie wurden abgetrieben?«
    »Wozu diese Kinder? Die Mütter hätten nicht arbeiten können. Hätten wir sie ernähren sollen? Umsonst?«
    »Und die anderen, die nicht abgetrieben wurden?«
    Karla Werner schwieg. Nur ihr Mund bewegte sich weiter, als zermahle sie ihre Gedanken anstelle des Kekses.
    »Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Henri. »Wurden sie umgebracht?«
    »Was hätte ich denn tun können?« Für einen Moment zeigte Karla Werner ein Gefühl der Reue. »Die Babys lagen in Kisten, in denen Wanzen waren und Würmer. Es war überall dreckig. Die Mütter durften nur wenige Tage bleiben, dann mussten sie wieder zur Arbeit. Der Dreck machte die Kinder krank. Die meisten starben. Kaum eines überlebte. Ich durfte die Diagnose eintragen:
Debilitas vital
, Lebensschwäche.« Es klang stolz.»Und dann kam Frau Winkler und wollte den Jungen mit nach Hause nehmen, weil sie keine Kinder bekommen konnte.«
    »Welchen Jungen?«
    »Ihren Jungen.«
    »Sie meinen … Carl Winkler?«
    Myriam warf Henri einen erschrockenen Blick zu. Er verzog keine Miene, als hätte er es die ganze Zeit geahnt.
    »Ihr Sohn, ja, ihr Sohn, ihr Erbe.« Das höhnische Lächeln kehrte in das fleischige Gesicht zurück. »Er weiß es nicht, stimmt’s? Er weiß nicht, dass er ein Polacke ist.«
    Myriam konnte sich kaum beherrschen. Sie hatte viele Menschen vor Gericht erlebt, die ihr unsympathisch waren, deren Kaltblütigkeit sie entsetzte, deren Skrupellosigkeit sie abstieß. Doch noch nie hatte sie sich so vor einem Menschen geekelt. Das war keine Kaltblütigkeit, die diese Krankenschwester in sich trug, es war etwas anderes.
    »Was ist mit der Mutter passiert?«, fragte Henri.
    »Die Mutter?« Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
    »Hat sie die Geburt überlebt?«
    »Die waren alle zäh«, sagte die Frau. »Eine Geburt, das war damals nicht dasselbe wie heute. Da wurde kein Geschrei gemacht. Ein Kind war nichts anderes als ein Ableger. Man zog es heraus. Aber nicht alle taugten etwas.«
    Henri schien völlig unberührt, doch Myriam kannte ihn inzwischen gut genug, dass sie am Zittern seiner Hand, die nach den Zigaretten fasste, sie nur berührte, aus Angst sie könnten verschwunden sein, erkannte, er musste sich beherrschen, um nicht zu brüllen, nicht aufzuspringen und diese Frau vor ihm aus dem Sessel zu prügeln.
    »Was ist mit der Mutter passiert?«
    »Was weiß ich. Es war im Februar. Wir hatten alle Angst. Die Amerikaner waren in der Nähe. Das war ein Durcheinander. Wahrscheinlich kam sie in ein anderes Arbeitslager. Vielleicht auf den Flughafen. Dort arbeiteten damals viele Frauen. Deswegen haben wir die Kinder ja auch nicht gleich nach der Geburt sterben lassen, sondern sie durften einige Wochen leben. Damit die Mütter beruhigt waren. Sie sollten schließlich arbeiten. Man brauchte sie. Aber die Kinder sind dann doch gestorben. Nicht länger als sechs

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