Wintermörder - Roman
Exfrau und ihrem Ehemann gezielt in den Kopf geschossen. So etwas war eine Hinrichtung und deutete nicht auf einen Affekt. Verzweiflung funktionierte anders. Er hatte in der Befreiungsarmee des Kosovo gekämpft. Er konnte mit Waffen umgehen. Man hatte für einen Totschlag nicht die Hosentaschen voller Patronen. Verdammt, er hatte das Paar kaltblütig erschossen.
Myriam hatte Dr. Ibrahim Schahadat bestellt, einen muslimischen Psychiater, dessen Gutachten ausführlich und ausschweifend die Frage der Vergeltung erklärte und das Gesetz der Blutrache erläuterte. Nach albanischem Ehrbegriff war der Angeklagte der Geschädigte. Nicht nur, dass die Frau ihn verlassen hatte. Sie hatte ihn auch wegen Vergewaltigung angezeigt. Als Wiedergutmachung hatte die Familie der Frau ihm Geld geboten, wie es die Tradition verlangte, doch der Täter hatte abgelehnt. Im Sinne der alten Tradition könne seine Ehre nur durch die Todesstrafe wiederhergestellt werden.
Sie würde lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung beantragen. Schließlich hatte er zwei Kleinkindern beide Eltern genommen und Zeugen bedroht. Er hatte aus Rache und Hass getötet. Der Rechtsanwalt behauptete, der Angeklagte bedaure die Tat. Doch der Gutachter wies darauf hin, dass auch den Angehörigen der getöteten Frau weiterhin die Rache des Mannes drohe. Alles war sehr kompliziert.
Sie stand auf. Ihr Knie schmerzte. Es war geschwollen und blau. Henri hatte sie zum Arzt bringen wollen, doch sie hatte sich geweigert.
Sie hätte es tun sollen, denn gleich nachdem sie vom Friedhof zurückgekehrt war, hatte Hillmer sie rufen lassen.
»Wie konnten Sie nur?« Sein Gesicht war rot vor Wut.
»Carl Winkler war einverstanden«, erklärte sie heiser.
»Das ist mir scheißegal.« Sie hatte Hillmer noch nie brüllen hören. »Sie haben eine Exhumierung ohne mein Einverständnis angeordnet. Ich lasse Sie suspendieren.«
»Machen Sie, was Sie wollen. Ich brauche Ihr Einverständnis nicht. Weil es mein Fall ist.«
»Kein Fall gehört Ihnen allein. Hier bestimme immer noch ich. Gegen Henriette Winkler lag nichts vor. Ihre Entscheidung gründet sich auf keinerlei Verdachtsmomente.«
»Es gab den begründeten Verdacht, dass sich Drohbriefe des Täters im Sarg befinden.«
»Haben Sie diese gefunden?«
»Nein.«
»Um so schlimmer. Ihnen droht ein Verfahren wegen Störung der Totenruhe und Rechtsbeugung.«
Sie sagte nichts.
»Sie brauchen nicht länger mit meiner Unterstützung zu rechnen. Ich entziehe Ihnen den Fall.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn ich gehe, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie ein paar unruhige Nächte haben. Ich werde erzählen, dass Sie Absprachen getroffen haben mit Conradi, dass Ihnen alles daran gelegen war, den Ruf einer Familie zu schützen, die Zwangsarbeiter beschäftigte, die private Freundschaft zu dem Schlächter von Polen unterhielt und der ein Verfahren wegen Kunstdiebstahls droht.«
»Das ist ungeheuerlich. Damit kommen Sie nicht durch«, sagte Hillmer. Er kochte vor Wut. Nur noch ein paar Worte, und der Schlaganfall, der Herzinfarkt, ein Blutsturz waren vorprogrammiert.
»Ich mache Ihnen tagelang das Leben zu Hölle. Ich bin noch jung«, erklärte sie.»Die Wirtschaft wartet auf Leute wie mich. Ihnen«, ihr Zeigefinger schnellte nach vorne, »Ihnen wird der Arsch auf Grundeis gehen. Sie werden hier nicht mit dem großen Zapfenstreich gehen, wenn Sie endlich pensioniert werden. Sie werden durch die Hintertür kriechen.«
»Sie sind ja hysterisch«, schrie Hillmer. »Verlassen Sie sofort mein Büro. Die Sache wird ein Nachspiel haben.«
Myriam lag nichts daran, das letzte Wort zu haben, denn sie wusste, dass Hillmer eines verstanden hatte. Die Zeiten hatten sich geändert. Heute hackte eine Krähe nur zu gerne der anderen ein Auge aus.
Die Frau, die Myriam und Henri öffnete, atmete schwer. Sie wog an die hundertfünfzig Kilo, und Myriam wunderte sich, dass man mit diesem Gewicht überhaupt so alt werden konnte. Das Gesicht war aufgeschwemmt und bestand aus einer Fleischmasse, in der Augen, Nase und Mund versenkt waren.
Als das Telefon geklingelt und Henri Myriam mitgeteilt hatte, dass sie die Krankenschwester Karla Werner gefunden hatten, die vor sechzig Jahren die Geburtsurkunde als Zeugin unterschrieben hatte, hatte sie sich gerade erst von ihrem Gespräch mit Hillmer erholt. Der Name Karla Werner war bereits in den Ermittlungen aufgetaucht. Auf den Gehaltslisten der Winklerbau AG. Die
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