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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Wochen haben sie durchgehalten.«
    »Doch diesen einen Jungen, den hat Henriette Winkler zu sich genommen?«
    »Ja, sie wollte ihn unbedingt.«
    »Warum ausgerechnet diesen?«
    »Das Mädchen arbeitete bei ihr im Haushalt.«
    »War die Mutter damit einverstanden?«
    Karla Werner lachte. »Einverstanden? Was weiß ich. Hab nicht danach gefragt. Hat auch keinen interessiert. Die Winkler kam hier an mit ihrem Wagen und Chauffeur. Sie trug einen weißen Pelzmantel.«
    »Und hat das Kind mitgenommen?«
    »Sie hat mit dem Arzt gesprochen, und der hat eine Bescheinigung ausgestellt, dass es ihr Kind war. Ich war Zeugin
    und der Arzt auch.«
    Sie lachte erneut laut auf.
    »Hatten Sie keine Angst, dass die Sache irgendwann ans Tageslicht kommt?«
    »Ich war nur Krankenschwester, und der Arzt kam eines Tages nicht mehr ins Lager. Sein Haus wurde bombardiert, und weg war er. Sie hat mir ja das Geld gegeben. Später. Und mir Arbeit besorgt. Ich habe fast zwanzig Jahre als Betriebskrankenschwester bei den Adlerwerken gearbeitet. Bis diese verkauft wurden. Da ging ich wieder zu ihr, und sie hat gesagt, ich bekäme von ihr ein Gehalt und müsse nie mehr arbeiten.«
    Ihre Hand griff nach einem Schokoladenkeks. Sie biss hinein. Es krachte.
    »Was ist mit dem Vater des Kindes?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Darüber hat sie nie gesprochen. Väter spielten zu dieser Zeit keine Rolle.«
    Henri bedankte sich nicht, als er aufstand. »Wir müssen Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.«
    »Ich geh nicht aus dem Haus«, sagte sie.
    »Ich schicke jemanden vorbei. Dem erzählen Sie alles, was Sie uns erzählt haben.«
    »Ich weiß«, meinte sie, »für die Wahrheit bekommt man nichts.«
    Sie gaben ihr nicht die Hand zum Abschied.
    »Ich habe Blumen hingebracht«, sagte sie, als Myriam und Henri bereits in der Tür standen.
    »Wohin?«
    »Auf den Friedhof. Sie haben dort Kreuze aufgestellt.«
    Einen kurzen Moment glaubte Myriam Tränen in ihren Augen zu sehen, doch sie hatte sich getäuscht, denn gleich darauf sagte sie: »Mein Gott, Babykörper. Von denen ist doch heute nichts mehr übrig. Nur Staub. Auf Staub können keine Blumen wachsen. Und machen Sie den Fernseher wieder an.«
    Henri Liebler saß neben Myriam im Auto, doch er hatte
    nicht die Absicht loszufahren.
    »Sagen wir es ihm?«, brach Myriam das Schweigen.
    »Carl Winkler? Das werden wir müssen.«
    »Ich kann es nicht glauben. Ich fand sogar, dass eine Familienähnlichkeit besteht.«
    »Meine Mutter hat immer behauptet, ich sähe meinem unbekannten Vater ähnlich. Und dann, als ich ihn mit achtzehn zum ersten Mal traf … da saß ein dürres Männchen vor mir. Das sollte mein Vater sein? Er war mindestens zwanzig Zentimeter kleiner als ich, hatte graue Augen und war völlig kahl.«
    »Du wolltest ihm auch nicht ähnlich sehen?«
    »Nein.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt hat er mir sein Haus und zwei Lamas vererbt.«
    »Lamas?«
    »Lamas. Die hat er sich angeschafft, als er sich nicht mehr in der Lage sah, das Grundstück zu pflegen. Sie sollten das Gras kurzhalten.«
    Für einen Moment glaubte Myriam, dass Henri einen Scherz machte, doch er verzog keine Miene. Sie lachte kurz auf, so absurd erschien ihr die Vorstellung von den Lamas, doch als er weiter ernst blickte, hörte sie auf.
    »Sein Leben lang hat er sich nicht um mich gekümmert«, fuhr er fort, »und plötzlich ein Anruf vom Notar, mein Vater habe gewünscht, ich solle zu seiner Beerdigung kommen und sei sein Alleinerbe. Warum?«
    »Im Alter und im Tod wird man seltsam.«
    »Was ist mit deinem Vater? Siehst du ihm ähnlich?«
    »Ist das so wichtig? Spielt es eine Rolle, wem du ähnlich siehst oder im Charakter gleichst?«
    »Fragen wir Carl Winkler, ob es für ihn wichtig ist. Fragen wir Denise.«
    »Sie wird vermutlich erleichtert sein, dass ihre Großmutter nicht ihre Großmutter war.«
    »Oder das Gegenteil. Diese Dinge lösen Gefühle aus, von denen man nicht wusste, dass man sie hat. Deswegen sollten wir zunächst mit Hannah sprechen. Sie weiß, was in so einem Fall zu tun ist.«
    »Carl Winkler ist sechzig Jahre alt.«
    »Sechzig Jahre lang belogen zu werden, ist hart. Außerdem: Irgendwo lebt vielleicht seine Mutter und denkt immer noch an ihn.«
    »Sophia Fuchs?«
    Henri zuckte mit den Schultern.
    »Mein Leben steht zwar nur auf einer Säule«, sagte er, »aber seines auf gar keiner. Da bricht man schnell zusammen.«
    »Lass mich zusammen mit Hannah zu ihm gehen. Ich möchte dabei sein.«
    »Warum bist du

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