Wintermörder - Roman
Krankenschwester hatte, obwohl bereits zweiundachtzig Jahre alt und in der Firma völlig unbekannt, jahrelang Gehalt bezogen.
Henri war es offenbar müde, höflich zu sein, lange Vorgespräche zu führen, oder es lag an der Frau vor ihm, dass er sofort zur Sache kam: »Polizei, wir müssen mit Ihnen über Henriette Winkler sprechen.«
»Ich hab mich schon gewundert«, sagte die Frau, »dass des so lang gedauert hat.«
Sie kehrte ihnen den Rücken zu und schlurfte langsam und schwerfällig den dunklen, muffigen Flur entlang. Sie folgten ihrem Schnaufen. Ihr Atem rasselte, als sei die Lunge bis oben hin mit Wasser gefüllt. Im Wohnzimmer ließ sie sich in einen Sessel fallen. Der Fernseher lief. Auf dem Tisch stand eine Flasche Limonade sowie eine Packung Kekse. In einem Schuhkarton stapelten sich Medikamente. Auf dem Sofa war ein Bett hergerichtet.
»Warum haben Sie sich nicht freiwillig bei uns gemeldet?«, wollte Henri wissen.
»Warum sollte ich? Könnt ja sein, dass Sie mich vergesse. Und ich geh nicht mehr aus dem Haus. Hier gibt’s ja kein Aufzug, und wenn ich einmal unten bin, dann komme ich nimmer hoch.«
Die Luft im Raum war so schlecht, dass Myriam unwillkürlich durch den Mund atmete. Die Frau griff nach einem Keks, steckte ihn zwischen die Lippen und begann ihn zu zermahlen. Sie bot ihnen nicht an, sich zu setzen. Sitzgelegenheiten gab es keine.
»Haben Sie irgendwo Stühle?«, fragte Henri. Myriam hatte ihn noch nie so ungeduldig erlebt.
»In der Küche«, antwortete die Frau und drehte den Kopf, um an Henri vorbei auf den Fernseher zu schauen. Es lief eine dieser Gerichtsshows am Nachmittag. Ein schrill gekleidetes Mädchen keifte im Gerichtssaal herum, dass sie mit ihrer Mutter, dieser Hure, nichts zu tun haben wolle, sie könne ihren Anblick nicht ertragen, ohne zu kotzen. Der Fernsehrichter griff nicht ein.
Als Henri mit zwei Stühlen zurückkam, schaltete er den Fernseher aus. Die Frau protestierte nicht, sondern griff nach dem nächsten Keks.
»Also, warum standen Sie auf der Gehaltsliste der Firma Winklerbau?«
»Weil ich für sie gearbeitet habe«, sagte Karla Werner und begann dann plötzlich zu kichern. »Ich habe für sie gearbeitet.«
»Was haben Sie gearbeitet?«
Die Frau grinste ihn an. Die Schneidezähne fehlten sowie einer der Eckzähne. Das Grinsen in ihrem Gesicht wirkte so wie durch eine Lupe vergrößert.
»Ich habe für sie geschwiegen«, antwortete sie schließlich. »Sechzig Jahre lang. Was glauben Sie denn? Wissen Sie immer noch nicht, wer diese Frau war? Was habe ich gelacht, wenn ich sie in der Zeitung gesehen habe. Mit all diesen Leuten. Dem Ministerpräsidenten und so weiter. Ich saß hier in diesem Sessel und habe gelacht. Und jetzt ist sie tot. Ermordet worden. Hat er sie erschlagen? Ich habe alle Berichte gesehen. Auch über den Jungen. Sie haben ihn noch nicht gefunden, oder?«
Sie schien sich tatsächlich darüber zu freuen.
Henri warf Myriam einen Blick zu. »Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich frag nur so«, antwortete sie, »weil es mich interessiert.« Sie beugte sich nach vorne. »Man nimmt doch Anteil am Schicksal.«
»Also, was haben Sie verschwiegen?«
»Warum soll ich Ihnen das sagen?«
Myriam spürte die Wut in sich hochsteigen. Sie wollte etwas sagen, doch Henri bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen.
»Weil sie jetzt tot ist«, sagte er. »Jetzt können Sie also endlich reden. Geld bekommen Sie sowieso keines mehr.«
»Aber was, wenn ich alles vergessen habe?« Wieder begann sie schrill zu lachen. Das Wasser in ihrer Lunge klang wie ein Whirlpool, der angeworfen wurde. Sie begann zu husten, griff mit sicherer Hand nach der Medikamentenkiste und zog ein Spray hervor, das sie in den Mund sprühte, nicht um Luft zu holen, sondern um noch lauter zu lachen. »Stellen Sie sich das vor, sie hat mich bezahlt all diese Jahre, und ich habe alles vergessen.«
»Sie haben es nicht vergessen.« Henris Stimme wurde laut.
Das Lachen brach ab. »Nein, ich habe nichts vergessen.«
Ihr Blick fiel auf Myriam.
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Warum nicht? Haben Sie keinen Mann, der Ihnen welche macht? Oder werden Sie nicht schwanger? Rutscht das Kind einfach durch Sie hindurch? Zack, und wieder ist es weg. Hat sich aufgelöst in Blut und Schleim, das kleine Würmchen. Haben Sie schon mal abgetrieben?«
Myriam schluckte. Sie konnte der Frau kaum zuhören. Dennoch antwortete sie ruhig: »Nein.«
»Nicht mehr als
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