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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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dass das riesige Einkaufszentrum wie ein Fremdkörper in dem Viertel wirkte. Es drängte die kleinen Häuser an den Rand, verschluckte sie, erdrückte sie in seiner Monstrosität.
    Ihr Handy begann zu klingeln. Sie zog es aus der Tasche und warf einen ungeduldigen Blick auf das Display. Die Nummer war unbekannt. Rief er endlich an? Ihre Hand zitterte, als sie auf Empfang drückte.
    »Ja«, schrie sie so laut, dass eine Großmutter, die ihren Enkel spazieren fuhr, sie missbilligend anblickte.
    »Hallo«, schrie sie erneut.
    »Kadow«, hörte sie eine Stimme.
    Kadow?
    »Wer?«
    »Marek Kadow.«
    »Ach ja.«
    »Wo sind Sie?«
    »An der Galeria Kazimierz.«
    »Kommen Sie zur Bibliothek.«
    »Wohin?«
    »Zur Universitätsbibliothek. Biblioteka Jagiellońska. Nehmen Sie den Eingang von der Oleanderstraße aus.«
    »Warum?«
    »Ich warte dort auf Sie. Ich habe etwas gefunden.«
    Sie schaute sich um. Außer ihr war niemand auf der Straße. Doch, dort, zweihundert Meter hinter ihr ging dieser füllige Mann, der sie auf dem Wawel angestarrt hatte. Folgte er ihr? Er ging langsam, zögerte, aber er starrte immer wieder in ihre Richtung und hob das Handy, um zu fotografieren. Er kam ihr bekannt vor. Sie hatte ihn bereits irgendwo gesehen. Doch ihre Gedanken waren wie gelähmt. Sie bewegten sich nur in eine Richtung.
    »Sind Sie noch dran?«, hörte sie Kadow fragen.
    »Wie komme ich dorthin?«
    »Wo genau sind Sie? Wie heißt die Straße?«
    Denise rannte zum nächsten Straßenschild
    »In der Podgórska. Ich stehe direkt vor der Galerie.«
    »Sehen Sie Richtung Wawel eine Brücke?«
    Denise wandete den Blick nach links. Die Brücke mit einer riesigen Eisenkonstruktion lag direkt vor ihr.
    »Ja.«
    »Das ist die Pilsudskibrücke. Ich schicke Ihnen ein Taxi dorthin. Es ist in wenigen Minuten da.«
    »Was haben Sie denn gefunden?«
    »Ich warte hier«, antwortete Kadow und beendete das Gespräch.
    Ungeduldig rannte Denise zur Brücke, blieb an der Ampel stehen und hielt nervös Ausschau nach dem Taxi.
    Auf der anderen Seite kam ihr wieder dieser Mann entgegen, das Gesicht hinter dem Stadtplan versteckt. Er trug über dem schwarzen Mantel einen glänzenden dunkelgrauen Seidenschal. Als er den Kopf hob, sah sie ihm direkt ins Gesicht. Woher kannte sie ihn?
    Sie war fast schon so weit, ihn anzusprechen, als das Taxi um die Ecke bog.
    Sie hatte Schwierigkeiten, die Beifahrertür zu öffnen. Der Fahrer half ihr von innen. Sie fiel in den Sitz, der unter ihr nachgab. Es roch nach abgestandenem Zigarettenqualm und Diesel, und ihr fiel ein, dass sie nicht genau wusste, wo sie hin wollte.
    »Bibliothek«, sagte sie zum Fahrer. »Jagiellonenbibliothek.«
    Er nickte und gab Gas.
    Sie drehte sich kurz um und sah gerade noch, wie der Mann wieder das Handy hob, um zu fotografieren.
    Denise hatte die Hoffnung schon aufgegeben, den richtigen Eingang zur Bibliothek zu finden, als ein Student, der Englisch sprach, ihr den Weg zeigte, der um das alte Gebäude herum zu einem neuen Anbau führte. Dort erwartete sie Kadow bereits.
    »Was haben Sie gefunden?«, fragte sie.
    »Etwas, von dem ich selbst noch nichts wusste.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Es war einfach Glück. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, habe ich mir alte Pläne vom Wawel und von Kazimierz angeschaut. Die Bibliothek besitzt eine große Sondersammlung.«
    »Und?«
    »Sie brauchen einen Leseausweis. Haben Sie Ihren Pass dabei?«
    »Ja.«
    Als sie sich in die lange Schlange reihten, die sich vor dem Bibliotheksschalter gebildet hatte, glaubte Denise, wahnsinnig zu werden. Ihre Fingernägel gruben sich in die Handfläche.
    »Weshalb dauert das so lange?« Die Ungeduld kroch in ihr hoch. Sie konnte sie kaum ertragen.
    »Es dauert hier eben. Aber ohne Ausweis ist nichts zu machen. Die Bibliothek ist besser bewacht als der Flughafen. Wir Polen schützen unser Wissen, damit es uns keiner wegnimmt. Die Bücher sind uns heilig. Und es ist noch nicht lange her, dass aus der Bibliothek ein Werk von Johannes Kepler gestohlen wurde, eine Erstausgabe von 1604, und bei einer Auktion in Frankfurt auftauchte.«
    »Es sind nur Bücher«, sagte Denise. »Aber ich suche nach meinem Sohn. Warum sagen Sie mir nicht gleich, was Sie mir zeigen wollen?«
    »Weil ich mir nicht sicher bin.«
    Warum vertraute sie ihm? Auch er könnte der Entführer sein und sich deshalb bemühen, ihr zu helfen. Für einen Moment überfiel Denise Angst, und dann war sie erleichtert. Wenn es so wäre, dann war sie froh. Er

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