Wintermörder - Roman
eingefallen.«
»Was?«
»Kommen Sie.«
Sie sprang auf, um ihm ins Foyer zu folgen. Er ging zu einer Tafel rechts und blieb davor stehen. Zahlreiche Namen mit Geburts- und Sterbedaten waren dort in den Marmor geritzt.
»Ich habe es gewusst.« Kadows Hand deutete auf einen Namen in der Mitte. »Ich habe den Namen schon einmal gehört, Lisowski, Henryk, 1901 bis 1942. Er war an der Universität beschäftigt. Er arbeitete im Museum Czartoryjski. Vor dem Krieg.«
»Er muss nichts mit Zofia Lisowska zu tun haben«, sagte Denise, obwohl sie es besser wusste. Sie dachte an die Chopinbilder im Salon ihrer Großmutter, mit denen sie aufgewachsen war.
»Lassen Sie uns zurück in den Lesesaal gehen. Dort gibt es ein biographisches Lexikon von Krakau. Vielleicht finden wir etwas.«
Denise folgte Marek Kadow. Er ging mit einer Selbstverständlichkeit mit der Geschichte um, die sie überforderte. Als sei der Krieg für ihn noch lebendig. Es war eine Geschichte der Menschen, nicht der Daten, nicht der Schlachten, wie sie es gelernt hatte. All diese Verknüpfungen, die ihr Schwierigkeiten machten, schienen für ihn sinnvoll zu sein.
Geradezu logisch. Als sei er es gewohnt, in diesen Bahnen zu denken.
Der Eintrag im Lexikon, den Kadow übersetzte, war ausführlich. Danach stammte Henryk Lisowski aus Lwów, das vor über sechzig Jahren zu Polen gehörte und am Ende des Krieges der Sowjetunion zufiel. Lisowski war für die Kunstsammlung im Czatoryjski-Palast verantwortlich gewesen. Am
6. November 1939 wurde er mit 189 Mitarbeitern der Universität verhaftet und nach Buchenwald verschleppt. Im März 1941 kehrte er zurück und leistete Widerstand bei der Verschleppung von polnischen Kunstwerken unter Hans Frank. Im November 1941 wurde er auf dem Hauptmarkt vor dem Museum erschossen. Auf offener Straße.
Sie hörte bereits nicht mehr, was er sagte, sondern zog das Handy hervor und suchte in ihrem Geldbeutel nach der Nummer von Matecki.
Es dauerte, bis endlich jemand abnahm. Eine unbekannte Stimme sagte: »Hallo.« »Matecki?«
»Nie.«
»Wo ist er?«
Der Mann antwortete auf Polnisch. Denise reichte Kadow das Telefon.»Fragen Sie, wo Matecki ist.«
Kadow unterhielt sich lange. Schließlich reichte er Denise das Handy. »Matecki ist nicht in seinem Büro.«
»Wann kommt er wieder?«
Kadow gab die Frage weiter. »Das weiß keiner. Offenbar ist er früher nach Hause gegangen. Soweit ich den Kollegen verstanden habe, ist seine Mutter krank.«
Denise schaute auf die Uhr. Sie war sicher, dass sie den Polizisten jetzt überzeugen konnte, dass Frederik in Krakau sein musste.
Gespenster, dachte Denise, was soll ich mit all diesen Gespenstern aus der Vergangenheit?
Die Bilder im Haus ihrer Großmutter, auf die sie immer stolz gewesen war: Lüge.
Die großartige Vergangenheit ihrer Familie:Lüge.
Der Erfolg nach dem Krieg: Lüge.
Das Ansehen: Lüge.
Wie schnell man sich daran gewöhnte, dass das eigene Leben aus den Fugen geriet. Nein, sie sollte es nicht Gewöhnung nennen. Es war eine Gleichschaltung mit dem Schick-sal, und Denise hatte das Gefühl, dass sie es immer gespürt hatte. Marathon zu laufen, war der Versuch gewesen zu fliehen.
»Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen«, sagte sie zu Kadow. »Irgendwohin, wo ich diese Stadt nicht länger ertragen muss.«
Sie gingen die Weichsel entlang. Inzwischen war es dunkel geworden, und nur wenige Menschen, zumeist Spaziergänger mit Hunden, waren unterwegs.
Der Frost hatte Löcher in die Wege gesprengt, in denen sich Pfützen und das restliche Laub des Herbstes sammelten. Auf dem Weg gefrorene Eisschollen. Sie sprachen kein Wort. Denise starrte auf den Fluss, um nicht auf die Stadt blicken zu müssen.
»Warum helfen Sie mir?«, fragte sie schließlich. »Sie haben keinen Grund!«
»Braucht man immer einen Grund?«, antwortete Kadow. »Wir Polen leben von einem Tag auf den anderen, wir denken maximal einen Monat voraus. Solange wir Geld haben, geben wir es aus, weil es übermorgen sowieso weg sein könnte. Wenn wir jemandem helfen, fragen wir nicht, warum.«
Sie gingen weiter nebeneinander her, ohne miteinander zu sprechen.
Als sie das Martinshorn hörte, erinnerte sie sich wieder an den Brand. Zweihundert Meter vor ihnen stand ein Krankenwagen am Ufer. Ein großes Polizeiaufgebot war zu sehen.
Sie konnten sich bis auf zwanzig Meter nähern, dann wurden sie von einem Polizisten gestoppt.
Marek Kadow unterhielt sich lange mit einem der Polizisten an der
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