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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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würde sie zu ihrem Sohn führen.
    Minute um Minute verging, und die Schlange kam nur langsam vorwärts. Denise fühlte die Waffe in ihrer Handtasche. Sie verlieh ihr eine überraschende Sicherheit, die sie nicht erklären konnte. Sie war bereits am Flughafen in Frankfurt gewesen, als ihr plötzlich in den Sinn kam, dass man sie von Kopf bis Fuß kontrollieren würde. Sie hätte keine Chance, die Waffe bei sich zu behalten. Kurz entschlossen war sie zum Bahnhof gefahren und hatte sich nach der nächsten Verbindung nach Krakau erkundigt. Sie hatte die Fahrt nur überstanden, weil sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt war. Fast bewusstlos hatte sie das Rattern des Zuges gehört. Und wenn sie spürte, dass sie vor Ungeduld wahnsinnig wurde, hatte sie den Revolver angefasst. Das kalte Metall hatte sie beruhigt.
    »Hans Frank hat damals einige Umbauten auf dem Wawel vorgenommen«, sagte Kadow.
    »Ich weiß.«
    »Aber seine Pläne gingen weiter.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Sie waren an der Reihe. Die Bibliotheksangestellte sprach mit Kadow, ohne ihn anzusehen. Es brauchte offenbar einige Überzeugungskraft, Denise einen Ausweis auszustellen. Als sie die Anmeldung ausfüllte und die Nummer ihres Passes eintrug, zitterte ihre Hand so stark, dass ihr der Kugelschreiber aus der Hand fiel, den Kadow geduldig für sie aufhob.
    Der Weg zum Lesesaal im dritten Stock führte über eine schmale Treppe, die von einem Wachmann mit Headset kontrolliert wurde. Das Ganze hatte etwas von einem Hochsicherheitstrakt, und Denise überlegte, wovor sich die Wissenschaft hier schützte.
    Im dritten Stock klingelte Kadow an der Tür. Innen nickte ihm die Bibliothekarin zu, und die Glastür öffnete sich mit leisem Surren.
    Er legte den Zeigefinger an die Lippen. »Wir müssen leise sprechen.«
    »Aber wir sind hier völlig allein.«
    »Die Aufsicht ist hier sehr streng. Hier befinden sich wertvolle Handschriften.«
    Sie folgte ihm zu einem Tisch, der mit Papieren bedeckt war.
    »Hier«, sagte er.
    Der Plan war schlecht gezeichnet und alt. An den Falzstellen hatte er Risse, und die Ränder wiesen Flecken auf. Außerdem war die Schrift kaum zu entziffern. Kadow schaltete eine der grünen Lampen an, von denen auf jedem Tisch eine zur Verfügung stand.
    Denise beugte sich hinunter und versuchte, sich zu orientieren. »Der Wawel?«, fragte sie und deutete auf den mächtigen Gebäudekomplex rechts, der über den Fluss ragte.
    Kadow nickte.
    Denise zog ihren Stadtplan hervor, faltete ihn auseinander und legte ihn daneben.
    »Dann müsste hier im Südosten Kazimierz liegen.« Ihr Finger deutete auf das Viertel rechts unten. Sie verglich beide Stadtviertel. »Aber es sieht völlig anders aus.«
    »Genau«, sagte Kadow. »Auf Ihrem aktuellen Stadtplan verlaufen alle Straßen von Kazimierz aus in Richtung des Hauptmarktes, also direkt auf das Stadtzentrum zu. Sie laufen am Viertel Stradom vorbei, sehen Sie?«
    »Ja, aber in diesem alten Plan gehen sie auf den Wawel zu wie ein Strahlenkranz. Wie mit dem Zirkel gezeichnet. Und Stradom fehlt völlig. Außerdem sind die Straßennamen deutsch.«
    »Genau«, erwiderte Kadow »Der Plan stammt aus dem Jahr 1941. Er wurde also zur Zeit der deutschen Besatzung erstellt.«
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Was wohl? Frank wollte Kazimierz abreißen, um es anschließend nach seinen Plänen neu aufzubauen. Kazimierz, das alte jüdische Viertel, sollte deutsch werden.«
    »Aber was hat das mit mir zu tun oder der Entführung meines Sohnes?«
    Kadow deutete auf den unteren rechten Rand des alten Planes. »Kennen Sie das?«
    Denise erkannte die Signatur sofort. Die beiden Buchstaben
O
und
W
waren ineinanderverschlungen. Ihr Herz begann zu schlagen. Nur ein Gedanke. Ihre Großmutter: unnahbar, unerreichbar, unfassbar. Ihr Großvater: dessen einzige Hand sie festhielt, wenn sie auf seinem Schoß saß, der sie an sich drückte, ihr Geschenke kaufte. Der ihr sagte, sie sei sein Geschenk. Ihre Großmutter hatte sie geschimpft. Sie sei zu alt, um auf dem Schoß zu sitzen. Sie war sofort heruntergerutscht und weggelaufen.
    »Mit diesen Initialen hat mein Großvater seine Pläne signiert.« Es fiel Denise schwer, es auszusprechen.
    »Ich war mir nicht sicher ...« Kadow brach ab.
    »Wie haben Sie das gefunden?«
    »Es war nicht schwer«, erklärte Kadow leise. »Vom Hotel aus bin ich direkt hierhergefahren, um im Archiv nach dem Namen Ihres Großvaters zu suchen. So bin ich auf diesen Plan gestoßen. Es gab immer wieder

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