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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Dachkammer und warte.
    Das Warten ist zu meiner zweiten Natur geworden.
    Ich liege mit einer Anspannung da, an die ich mich schon gewöhnt habe. Die Vorahnung schnürt mir das Herz zusammen. Ich höre Schritte auf der Treppe und erstarre. Bis mir einfällt, dass er nicht da ist. Er ist nach Berlin gefahren. Er ist weg. Er ist weg.
    Warum bin ich nicht erleichtert?
    Weil mein Inneres zum Stillstand gekommen ist. Als ob nur noch Arme und Beine funktionierten, sonst nichts.
    Gestern habe ich auf die Herdplatte gefasst und nichts gespürt. Ich hörte es zischen, aber der Schmerz blieb aus. Wie ist das möglich?
    Immer wieder fragt Magda, was los ist, aber ich kann es ihr nicht erzählen. Also redet sie die ganze Zeit. Dass sie verliebt ist. Sie flüstert, während sie mir von ihrer Liebe spricht. Sie erzählt mir jede Einzelheit. Wie er sie ansieht, wie er redet, wie er sie küsst.
    Magda hat keine Grundsätze. Ich kann ihr nicht mehr vertrauen. Sie macht sich mit jedem gemein, und einen Deutschen kann man nicht lieben.
    Ich hasse sie.
    Dieser Hass ist wie ein Geschwür. Er wächst von Tag zu Tag. Er bläht meinen Bauch auf.
    Ich huste und huste, und sie fragt mich besorgt, ob ich Probleme mit der Lunge habe. So etwas wird vererbt, sagt sie. Dein Bruder hatte doch auch Tuberkulose. Wer weiß, ob er noch lebt.
    In meinem Innern schreie ich sie an. Er lebt, er lebt. Aber kein Wort kommt über meine Lippen. Ich bin stumm.
    Du hast das Recht, in die Stadt zu gehen, sagt sie immer wieder. Ja, die Vorschriften sind streng, aber das Recht hast du, sagt sie.
    Ich habe es ja versucht. Als niemand im Haus war, habe ich die Haustür geöffnet, bin zum Tor gelaufen und habe es geöffnet. Erst konnte ich mich nicht entscheiden, wohin ich gehen soll, doch dann bin ich rechts zur Kirche abgebogen. Als ich davor stand, bog plötzlich eine Gruppe Jungen um die Ecke. So alt wie Leszek. Sie trugen Uniformen und brüllten ein Lied. Ihre Stiefel schlugen auf dem Asphalt auf. Ich flüchtete in die Kirche und kniete mich auf den Steinboden wie die Frauen in der Marienkirche und fragte Gott, warum meine Mutter nie auf meine Briefe geantwortet hat. Oder hat Magda sie einfach weggeworfen? Ich traue ihr plötzlich alles zu, wie die ganze Welt draußen zur Bedrohung geworden ist. Ich sehe den Himmel und halte mir die Augen zu. Ich schließe die Vorhänge, wenn die Sonne scheint. Ich sehe die Straße und fürchte mich. Ich höre Leute vorbeigehen, miteinander sprechen und möchte sie anbrüllen.
    Als ich wieder zurück im Haus war, habe ich nach einem Messer gesucht und den Rock hochgehoben. Aber ich habe es nicht geschafft zuzustoßen. Meine Hand zitterte, meine Finger krallten sich um den Griff, und ich sah das Blut vor mir.
    Am Anfang dachte ich noch, es würde verschwinden. Wie die Lungenentzündung oder der Husten. Wie das Blut jeden Monat, das ich mit Zeitungspapier auffange und es mit den Kohlen in den Ofen werfe.
    Jetzt sind doch Schritte vor der Tür. Ist er zurückgekommen?
    Langsam öffnet sich die Tür, und die Frau kommt heran. Sie schaut mich an. Ich ziehe die Decke höher.
    Warum sagt sie nichts? Befiehlt sie nichts? Warum streicht sie nicht mit den Fingern über die Möbel auf der Suche nach Staub, nach Spinnweben, nach ihrem eigenen Dreck?
    Es würde mich beruhigen.
    Stattdessen geht sie zum Dachfenster und schaut zum Fenster hinaus, das Richtung Garten geht. Es ist nicht größer als eines der Bücher meines Vaters, und wenn ich es öffne, ist es, als ob ich eine Seite aufschlage zu einer anderen Welt, die so unwirklich ist wie die in Büchern.
    Sie räuspert sich, tritt wieder an mein Bett und schaut von oben auf mich herab.
    »Ich weiß es«, sagt sie. »Aber du bist selbst schuld.«
    Ich antworte nicht.
    »Du musst das Haus verlassen. Du kannst nicht länger hierbleiben. Ich finde einen Platz für dich. Aber erst habe ich dir einen Vorschlag zu machen.«

Ein Tag

35
    Es war kurz vor drei Uhr nachts, als Henri an der Grenze in Görlitz, polnisch Zgorzelec, wieder das Steuer übernahm, nachdem er die letzten drei Stunden auf dem Beifahrersitz geschlafen hatte ohne die ängstliche Unruhe, die Thomas stets überkommen hatte, wenn Myriam seinen BMW lenkte. Was jedoch der Hauptkommissar Henri Liebler vermittelte, war uneingeschränktes Urvertrauen in ihre Fahrkünste.
    Sie waren seit zwölf Uhr in der Nacht unterwegs, und Myriam hatte kaum Zeit gehabt, Pass, Geld sowie einige Kleider zusammenzupacken.
    Die Landschaft, die an ihr

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