Wintermörder - Roman
dein eigenes. Oder hast du gedacht, ich hätte nicht gemerkt, wie du sie mit deinen Blicken verschlungen hast, dieses dreckige Dienstmädchen, wie du Nacht für Nacht nach oben geschlichen bist in ihre Dachkammer? Es ist dein Kind. Ich werde deinen Sohn für dich aufziehen, obwohl es nicht mein eigener ist. Sag mir, dass du mich verlassen willst. Ich kann dich jederzeit anzeigen. Nicht nur wegen Vergewaltigung.«
Wieder brach Frau Hirschbach in Tränen aus.»Ich bin geblieben, all die Jahre. Ich konnte Carl doch nicht im Stich lassen. Er war so ein sensibles Kind.«
Und Myriam dachte, sie sei in einem schlechten Film. Zwei Dinge gab es, die sie tun musste, wenn das hier vorbei war. Sie würde sich Schuhe kaufen und ins Theater gehen. In irgendein modernes Stück, das einem die Absurdität des Lebens nicht in den ewig alten Konflikten und Familienfehden erzählte, die sich seit der Antike nicht verändert hatten. Nichts schien sich zu ändern. Die Menschheit wälzte sich durch die Jahrhunderte wie eine Lawine, die immer mehr anschwoll. Am Ende würden sie darin ersticken.
Nachdem sie das Haus von Carl Winkler verlassen hatte, beschloss Myriam, ihren Vater zu besuchen. Es war nicht wie sonst das schlechte Gewissen, das sie zu ihm führte, sondern ein Gefühl der Unsicherheit. Sie musste sich überzeugen, dass ihr Vater der war, für den sie ihn hielt. Dass er sich nicht in Luft aufgelöst hatte. Dass sie seine Augen hatte, wie immer alle behaupteten, und seinen Charakter. Dass ihre Vergangenheit keine Lüge war.
Der Anflug von Sentimentalität war so groß, dass sie sofort nach der Ankunft seine Hand ergriff.
»Kalt«, stellte er fest und schaute verwundert aus.
»Ja, es ist kalt. Sehr kalt.«
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Misstrauisch schaute er sie an.
Nichts war in Ordnung, aber es betraf nicht ihn.
»Alles ist wunderbar«, sagte sie. »Ich bin nur durchgefroren. Aber deine Hände sind warm.«
Er lächelte. »Hast du gegessen?«
»Nein.«
Halina kam bereits mit einem Tablett zur Tür herein. »Hunger?«, fragte sie.
»Ja.« Myriam setzte sich an den Tisch und nahm sich von den Nudeln. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal etwas Richtiges gegessen hatte.
»Deine Haare«, sagte ihr Vater plötzlich. »Was ist mit deinen Haaren?«
Automatisch griff Myriam an ihren Kopf. Die letzten Stunden hatte sie den Überfall verdrängt. Aber jetzt fuhr sie nach Hause. Ihre Wohnung war zu einer Bedrohung geworden.
»Ach ja.« Sie bemühte sich, ruhig und beiläufig zu klingen, doch ihre Stimme schwankte. »Ich war nur beim Friseur.«
Halinas Blick ruhte einige Sekunden auf ihr. Sie war auch jemand, der Verantwortung übernahm. Offenbar spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Daher griff Myriam zur Gabel und sagte laut: »Guten Appetit.«
Als Myriam bei leichtem Schneefall die Friedensbrücke überquerte und sich den Bankentürmen der City näherte, wünschte sie sich, was sich alle Frankfurter irgendwann einmal auf dieser Brücke wünschten: Dass sie in New York wäre, um im Getriebe einer Großstadt mit über sieben Millionen Menschen unterzutauchen.
Unter den Angeklagten vor ihr auf der Bank gab es Versager, Machos, Weichlinge, Mitläufer. Egoisten, die nach Geld gierten und nach Macht. Andere, die von ihren Trieben beherrscht wurden. Egal, was auch immer sie zu dem Verbrechen trieb, Myriam hatte sich ihnen gegenüber nie unterlegen gefühlt. Immer war sie in die Verhandlung gegangen mit dem Gefühl zu wissen, was richtig war und was falsch. Doch nun sah sie sich mit einem Täter konfrontiert, der undurchschaubar war. Er war unsichtbar und hinterließ dennoch überall Spuren. Er hatte Henriette Winkler getötet, um vor aller Welt mit dem Finger auf sie zu zeigen. Sie verstand nach dem Gespräch mit Carl auch, warum. Ihm genügte der Tod nicht. Er hatte Frederik entführt. Etwas sagte ihr, dass Frederik ein Pfand war, ein Faustpfand. Nicht für Geld, sondern für die Wahrheit. Der Entführer erpresste um der Wahrheit willen. Das Kind bürgte dafür, dass die Vergangenheit ans Licht kam. Wenn Frederik starb, starb auch die Wahrheit.
Ihre Hand griff nach dem Fotoalbum, das sie aus dem Wohnzimmerschrank ihres Vaters genommen hatte. Halina war dazugekommen. Myriam hatte das Gefühl gehabt, etwas zu stehlen, auf das sie eigentlich Anspruch hatte.
Schneegestöber trieb über den Fluss.
Nein, kein wirkliches Schneegestöber, sondern Schneeflocken, die um sich selbst kreisten. Wie die Menschen in dieser
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