Wintermörder - Roman
dass sie ihr geholfen hat. Sie hätte es sonst nicht überlebt. Ich hätte es sonst nicht überlebt.«
»Das hat Ihre Mutter erzählt?« Myriam konnte den Spott in ihrer Stimme nicht verhindern.
Hannah Roosen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie stand auf und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Setzen Sie sich doch.«
Er gab nach und nahm auf einem der Ledersessel Platz.
»Wenn Sie Frau Singer nicht glauben, dann sollten Sie selbst mit Frau Werner sprechen«, erklärte Hannah.
»Jeder sagt doch —« Seine Stimme stockte. »Jeder sagt, dass ich meinem Vater ähnlich sehe.«
»Und das stimmt auch«, betonte die Haushälterin, die Myriam langsam auf die Nerven ging.
»Sie wissen doch, wie das ist«, erklärte Hannah. »Familienähnlichkeiten konstatiert man allzu schnell. Aber Tatsache ist, dass wir nicht wissen, wer Ihr Vater ist.«
»Aber ich weiß es.« Carl Winkler sprang auf. »Der Mann, der meine Mutter umgebracht und Frederik entführt hat, will sich rächen. Er hat sich das alles nur ausgedacht, weil er uns ruinieren will.«
»Warum wollte Ihre Mutter dann diese Geburtsurkunde mit ins Grab nehmen?«, fragte Myriam. »Was hätte das für einen Sinn?«
»Aber es hat für Sie einen Sinn, dass sie mich belogen hat? Sechzig Jahre lang? Niemand kann so lange lügen.«
»Herr Winkler, setzen Sie sich«, sagte Hannah. »Sie bleibt Ihre Mutter. Wenn Ihre Beziehung intakt war, kann sie keiner zerstören. Keiner kann Ihnen diese Jahre wegnehmen. Eltern, das ist mehr ein Gefühl als nur biologische Abstammung.«
Hannah hatte den Mann damit beruhigen wollen, doch sie erreichte das Gegenteil. Carl Winkler konnte sich nicht länger beherrschen. Tränen liefen das Gesicht herunter. Auch Frau Hirschbach brach in Tränen aus.
Myriam und Hannah saßen da und warteten. Warum war sie mitgegangen? Warum dieser Drang, alles selbst erledigen zu müssen? Für alles die Verantwortung zu übernehmen? Sie sehnte sich nach ihren Akten. Akten vergossen keine Tränen, und Daten behaupteten auch nicht das Gegenteil von der Realität. Ihnen war es egal, wer wessen Vater war. Der Drucker erzeugte Realitäten ohne Gefühle. Schwarz auf weiß.
»Sie werden damit fertig werden«, sagte Hannah Roosen schließlich. »Lassen Sie sich Zeit, solange Sie brauchen. Doch es hat keinen Sinn, die Wahrheit zu leugnen.«
»Ich kann sie nicht mehr fragen.« Carl Winkler wischte die Brille mit dem Jackenärmel sauber. »Ich werde nie die Wahrheit erfahren. Ich werde immer das Gefühl haben, belogen worden zu sein. Mein ganzes Leben lang.«
»Ihr Leben gehört Ihnen immer noch«, erklärte Hannah. »Ihre Tochter ist Ihre Tochter. Ihr Enkel bleibt Ihr Enkel.«
»Warum habe ich zugestimmt, dass Sie das Grab öffnen? Sie sind schuld«, wandte er sich an Myriam. »Sie haben mir versprochen, dass wir Frederik finden, stattdessen haben Sie mir meine Vergangenheit genommen.«
Myriam schwieg.
Hannah kam ihr zu Hilfe. »Er will Sie quälen.«
»Wer?«, schrie er. »Wer ist er?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Myriam.
»Wer ist meine richtige Mutter? Diese Sophia Fuchs, die ich nicht kenne, deren Namen ich nie gehört habe?«
»Davon gehen wir aus.«
»Möchten Sie mit so einem Gefühl leben? Mit dieser Unsicherheit? Dass ich mir etwas angeeignet habe, das mir nicht zusteht?«
»Es steht dir zu«, sagte Josefa Hirschbach plötzlich bestimmt. »Die Firma gehört dir.«
Myriam kam plötzlich ein Gedanke. »Sie haben es gewusst«, sagte sie.»Sie haben gewusst, dass Henriette Winkler das Kind aus dem Lager geholt hat.«
Carl Winkler starrte die Haushälterin an.
Sie nickte.
»Woher?«
»Ich habe gehört, dass Carls Vater sie danach gefragt hat. Er war aus der Gefangenschaft zurück.«
»Welche Gefangenschaft?«
»Man hatte ihn …« Sie schluckte. »Die Amerikaner hatten ihn nach dem Krieg inhaftiert. Sie wissen schon, wegen der Entnazifizierung.«
Myriam nickte »Und weiter?«
»Noch an demselben Abend — ich stand im Flur — fragte er sie:>Woher kommt das Kind? Woher hast du es?‹ Sie können verstehen, dass ich erschrocken bin. Warum fragt er nach seinem eigenen Kind? Ich blieb stehen, und er fuhr fort: ›Es ist nicht dein Kind. Du hast deines verloren. Wie immer. Sie wollen nicht bei dir bleiben, genauso wenig wie ich. Ich will kein fremdes Blut in meinem Haus.«
Carl Winkler vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Frau Hirschbach flüsterte jetzt nur noch: »Sie schrie: ›Fremdes Blut? Es ist kein fremdes Blut, sondern
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