Wintermörder - Roman
Stadt.
Eine Sekunde später war New York bereits wieder vergessen, und ihre Gedanken schweiften zurück. Sie war nach der Trennung von Thomas nach Frankfurt zurückgekehrt, weil sie sich nach dem Vertrauten sehnte, nach der Sicherheit des Bekannten. Doch nun war nichts mehr sicher, nicht einmal die Erinnerungen. Ihre Vergangenheit beruhte nicht wie die von Denise auf einer Lüge, sie war nicht auf einem Betrug aufgebaut, doch auch ihr Gedächtnis schrieb eine falsche Lebensgeschichte.
Die Wahrheit lautete: Sie hatte den Krankenwagen für Mike gerufen, weil sie wollte, dass endlich Schluss war zwischen ihm und Denise und dass diese ihn fallen ließ, weil sie seine Schwäche erkannte.
Als sie an ihrer Haustür vorbeifuhr, sah sie wieder Lichter eines Wagens hinter sich. Ihre Hände am Lenkrad begannen zu zittern. Sie spürte die Panik. Sie war plötzlich da. Als würde jemand ihren Körper mit einem Ruck vom Boden lösen und durch die Luft werfen. Es schmerzte nicht. Nur dieses Gefühl, dass sie gleich auf Asphalt aufschlug, dass ihr Kopf gegen eine Mauer prallte, dass ihr ganzer Körper zusammengepresst wurde. Sie war gefangen. Jemand saugte ihr die Luft aus den Lungen. Sie befand sich in einem Vakuum und konnte plötzlich nicht mehr atmen.
Sie riss das Lenkrad zur Seite. Die Reifen quietschten, und auf der nassen Straße schleuderte der Wagen. Sie verlor fast die Kontrolle, bis der Chrysler sich fing und die Straße weiterrollte. Der Wagen hinter ihr hupte, schoss an ihr vorbei. Es war ein dunkelgrauer BMW mit Münchner Kennzeichen. Im Vorbeifahren sah sie gerade noch ein Pärchen darin sitzen.
Sie fuhr einfach weiter. Es war ihr nicht bewusst gewesen, wie nah Henri wohnte. Es waren nur wenige Straßen. Sie wollte nicht allein sein. Sie sehnte sich nach der Sicherheit, die er ausstrahlte. Er hatte sie in der Nacht fest im Arm gehalten. Er hatte tief und fest geschlafen, ohne sie loszulassen. Die Härte, die man ihr nachsagte, ihre Konsequenz, erschien ihr jetzt nur noch als Verkleidung, die sie morgens mit den Schuhen anzog. Auf ihren Absätzen erhob sie sich über andere.
Sie parkte den Wagen direkt vor dem Senckenbergmuseum. Dann sprang sie aus dem Wagen und rannte über die Straße. Was, wenn er nicht zu Hause war?
Sie hatte kaum die Klingel gedrückt, als der Türöffner summte. Sie rannte die Treppen hoch. Im Laufen fiel ihr ein, dass heute Freitag war, dass das Wochenende begann.
Henri stand oben in der Tür und sagte kein Wort, als sie an ihm vorbeistürmte.
»Ich muss zu ihr«, sagte Myriam, »zu Denise. Ich muss zu ihr fahren. Ihr helfen. Ich darf sie diesmal nicht im Stich lassen. Ich fliege nach Krakau.«
»Das passt gut, ich auch«, antwortete er. »Zwei gute und eine schlechte Nachricht.«
»Fang an.«
»Wir haben Magda Urban gefunden, die Sophia Fuchs kannte. Sie haben beide als Zwangsarbeiterinnen in derselben Straße im Haushalt gearbeitet.«
»Wo wohnt sie?«
»In Krakau. Ich habe ihre Adresse und Telefonnummer.«
»Was noch?«
»Du erinnerst dich an die polnischen Texte aus der Kassette im Grab?«
»Ja, was ist mit ihnen?«
»Es handelt sich um die Expertisen für die Chopinbilder.«
»Nach denen Matecki gefragt hat?«
»Ja, und laut den Papieren stammen die Bilder aus dem Besitz des Czartoryjski Palastes in Krakau. Sie stehen seit Kriegsende auf der Liste der
Lost Paintings
und stammen alle von demselben Maler Ambrozy Mieroszewski. Sie sind Anfang des 19. Jahrunderts entstanden.«
»Lost Paintings?«
»Gemälde, die die Deutschen aus Polen und anderen besetzten Ländern nach Deutschland gebracht haben. Hans Frank hat das im großen Stil gemacht. Ich habe die Texte George gefaxt, wie du wolltest.«
»Und?«
»Du hattest Recht. Es ist dieselbe Schreibmaschine, mit der auch der Zettel in Henriette Winklers Hand geschrieben wurde. Für George gibt es keinen Zweifel.«
»Wie sind die Bilder zu den Winklers gekommen?«
»Vielleicht waren sie ein Geschenk«, sagte er, »ein Geschenk des Schlächters von Polen an die Winklers.«
»Wofür?«
Er zuckte mit den Schultern.
Die Dinge verkomplizierten sich. Gehörte alles zusammen? War alles ein einziges Motiv?
»Hast du das Matecki mitgeteilt?«
»Er war nicht da.«
»Was noch?«, fragte Myriam schließlich.
»Sie haben unterhalb des Wawels eine Leiche aus der Weichsel gezogen.«
Zofia
Freitag, 1. September 1944, Frankfurt
Wenn nur ein Wunder mich retten kann, dann muss ich an dieses
Wunder glauben.
Ich liege in der
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