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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Tage, um die Geschichte zu erzählen.«
    Ein Knacken in der Leitung. Das Gespräch war beendet.
    Benommen hielt Udo Jost den Hörer einige Minuten in der Hand. Er war unfähig zu handeln. Als er endlich auflegte, griff er als Erstes zur Flasche, ließ den Whisky die Kehle hinunterrinnen. Der erste Schluck war Panik, der zweite Erkenntnis. »Das ist deine Geschichte«, sagte er laut zu sich selbst. »Das passiert nur einmal im Leben. Diesmal darfst du es nicht vermasseln.«
    Udo Jost surfte im Internet.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Ramona Neuberger sein Büro betrat und in ihrem Kommandoton sagte: »Wir brauchen jemanden, der die Felsstürze in den Alpen recherchiert.«
    »Keine Zeit«, antwortete Jost. Seit Wochen konnte er ihr wieder einmal offen auf den Ausschnitt starren, ohne Abhängigkeit zu empfinden. Im Gegenteil, er hatte endlich wieder Macht über ihre Brüste, geradezu Anspruch darauf. »Ich glaube, es ist besser«, meinte er ruhig, »wenn du mich mit der Polizei verbindest. Wir haben eine Entführung.«
    In dem Moment, als er das Wort
Entführung
aussprach, fiel ihm auf, dass etwas fehlte, etwas unvollständig war. Der Mann hatte ihm eine Story angeboten, doch warum musste er nicht dafür bezahlen?

5
    Myriam Singer fror, obwohl der Heizkörper in ihrem Büro auf Hochtouren lief. Noch nie war ihr, wie heute, so bewusst gewesen, wie glücklich ihr Leben verlaufen war. Alles, was sie bisher als Drama empfunden hatte, war harmlos gegen das Unglück, das Denise getroffen hatte. Natürlich hatte sie Angst empfunden, als ihre Mutter an Knochenkrebs erkrankt war, sie hatte befürchtet, auch ihr Vater könnte sterben nach seinem Schlaganfall. Doch ein Blick in Denise’ Gesicht, und Myriam wusste, sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was Panik bedeutet: der totale Verlust der Kontrolle und das völlige Ausgeliefertsein an den eigenen Körper.
    Sie hätte Denise fast nicht wiedererkannt. Wäre sie ihr in der Stadt begegnet, hätte sie sie nicht einmal wahrgenommen. Die ehemalige Schulfreundin war völlig abgemagert auf dem Boden gesessen, die Kleidung vom Erbrochenen verschmiert. Myriam war ebenfalls schlecht geworden. Im Händchenhalten war sie noch nie gut gewesen.
    Liebler hatte das Erbrochene aufgewischt, er hatte die Kollegen angerufen, den Suchtrupp organisiert und Frau Hirschbach, die Haushälterin, angerufen, damit diese sich um Denise kümmerte. Er hatte auch die Presse vertrieben, die in einer Schnelligkeit von der Sache erfahren hatte, als verbreiteten sich schlechte Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit. Energisch hatte er sie vom Grundstück verwiesen, doch sie waren nur bis auf den Gehsteig zurückgewichen. Als Myriam zwei Stunden später aufbrach, tauchten sie scheinbar aus dem Nichts wieder auf. Drei Kameraleute rannten gleichzeitig los, als sie die Staatsanwältin erkannten. Bevor Myriam es überhaupt registrierte, begannen die Kameras bereits zu surren, die Fragen brachen über sie herein.
    Was ist passiert?
    Gibt es Tote?
    Wie alt ist der Junge?
    Denken Sie an ein Gewaltverbrechen?
    Ein gewaltsamer Tod. Ein verschwundenes Kind. Wenn das nicht eine Pressekampagne auslöste, was dann?
    Und die Familie war bekannt. Ihnen gehörte eines der traditionsreichsten Unternehmen in Frankfurt.
    Myriam seufzte. Sie verspürte den dringenden Wunsch nach einer Zigarette, ein Bedürfnis, das immer stärker wurde, je mehr sie daran dachte. Um sich abzulenken, nahm sie die oberste Akte in die Hand. Der Fall, der am nächsten Montag zur Verhandlung kam. Agim Kadare, ein seit seinem fünfzehnten Lebensjahr in Deutschland lebender Albaner, hatte seiner früheren Freundin und deren Ehemann nachts aufgelauert, um das im Auto sitzende Paar mit zahllosen Schüssen zu töten. Myriam war Kadare begegnet, als er dem Haftrichter vorgeführt worden war. Ein weinerlicher, von Selbstmitleid triefender Achtundzwanzigjähriger, der immer wieder behauptete, dass er die Tat bereue.
    Doch Myriam Singer war sicher:
    Er bereute gar nichts.
    Das war keine Verzweiflungstat gewesen, wie der Anwalt behauptete, sondern ein kaltblütiger Racheakt. Seit langem geplant. Entschlossen klappte sie die Akte wieder zu. Es hatte keinen Sinn, sie konnte das Gespräch mit Oberstaatsanwalt Hillmer nicht länger hinausschieben. Er würde mit Sicherheit davor zurückschrecken, ihr die Ermittlungen zu übertragen. Seine Angst, es sich mit den Kriminalbeamten zu verderben, war groß. Mehrfach hatte sich Ron Fischer, bevor

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