Wintermörder - Roman
fünfhundert Meter heran. Außerdem hat er eine Leitstelle in der örtlichen Turnhalle eingerichtet. Er möchte die Dorfbewohner befragen. Wir müssen auch entscheiden, wer sich um Henriette Winkler kümmert oder ob beide Fälle zusammengefasst werden. Liebler will wissen, wie viele Leute er bekommen kann.« Sie atmete nur kurz durch, um dann fortzufahren: »Ach ja, und die Presse versucht ständig, Denise Winkler zu erreichen. Das Telefon klingelt ununterbrochen.«
Hillmer drehte sich um. Selbst ein brillanter Schauspieler hätte große Mühe, diese Panik im Gesicht aufzubringen. Für einen Moment hatte Myriam das Gefühl, er würde die Hände auf seine Ohren pressen, weil er nichts mehr hören wollte.
»Ich gebe Ihnen den Fall nur ungern«, sagte er. »Ungern. Aber ich habe niemand anderen. Halten Sie sich also einfach an die Dienstvorschriften.«
»Ich kenne sie in- und auswendig.« Myriam konnte kaum den Triumph in ihrer Stimme unterdrücken.
Als Myriam die Haustür aufschloss, roch sie es sofort. Der Geruch hing im Flur. Obwohl täglich die Pflegerinnen der Caritas vorbeikamen, um ihren Vater zu duschen, dauerte es nur wenige Stunden, bis er wieder nach Urin roch. Sie verdrängte diesen Gedanken, atmete tief durch und rief betont fröhlich: »Ich bin’s.«
Sie erhielt keine Antwort. Als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, wusste sie, warum. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Den Kopf zur Seite geneigt, saß er in dem alten grünen Sessel, und — der Gedanke überfiel Myriam blitzartig — vielleicht war er tot. Erschöpft wie sie war, stellte sich die Angst nicht wirklich ein. Stattdessen schaltete sie den Fernseher aus. Sofort hörte sie ihren Vater laut atmen.
Dieser Job frisst mich auf, dachte sie. Es ist offensichtlich. Er frisst meine privaten Gefühle auf. Eine erfrorene Frau mit fünfundachtzig. Ein spurlos verschwundenes Kind. Und warum ist es mir egal, ob mein Vater tot im Sessel sitzt, wenn ich komme? Vielleicht bin ich wirklich eiskalt, wie Thomas immer betonte. Vielleicht war sie wirklich hart geworden mit den Jahren, wie alle Staatsanwälte, weil sie Tag für Tag Strafe einfordern musste. So etwas wirkte sich auf die Psyche aus und hinterließ irreparable Schäden bis hin zum Autismus.
Als sie seufzte, schlug ihr Vater die Augen auf. Er erkannte sie sofort. Das war vor einem halben Jahr noch nicht der Fall gewesen. »Ach, du, Myriam.« In gewohnter Weise strich er mit zitternder Hand die graue Haarsträhne nach hinten. Weißer Speichel hing in seinen Mundwinkeln.
»Heb das bitte auf«, sagte er dann und deutete auf den Bo-den, wo die Fernbedienung lag. Die Batterien waren herausgerollt, und Myriam legte alles zusammen auf den kleinen Nähtisch, an dem ihre Mutter am Abend stets ihre Handarbeiten erledigt hatte.
»Hast du etwas gegessen?«, erkundigte sie sich besorgt.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber das ist auch nicht so wichtig. Wie geht es dir?«
Wie immer lenkte er von sich ab, wenn es um seine Gesundheit ging. Er hatte darin dieselbe Raffinesse entwickelt, wie er sie früher hatte, wenn es um seine Interessen ging. Er war kein Vater zum Anfassen gewesen. Und noch immer hatte Myriam Hemmungen bei Tätigkeiten, die Körperkontakt erforderten.
»Ich mache dir ein Brot«, sagte sie.
»Isst du auch?« Er schaute sie fragend an.
Myriam nickte, obwohl sie keinen Hunger hatte. Sie würde ein Brot auf ihren Teller legen, einmal hineinbeißen, um es anschließend wegzuwerfen. Er würde es nicht bemerken.
In der Küche stapelte sich altes Geschirr. Myriam zog Haushaltshandschuhe über. Sarah hatte Recht, so ging es nicht weiter, nicht nur, was den Haushalt betraf, sondern auch weil die Einsamkeit ihren Vater depressiv machte. Früher hatte sie sich über sein dominantes Wesen ereifert, doch jetzt belastete sie ebenso stark, dass er so gefügig war. Er war erst fünfundsiebzig. Er hatte noch das Recht auf einige Jahre selbstbestimmten Lebens. Ein Recht, dachte Myriam, das ich nicht einklagen kann.
Sie ließ heißes Wasser ins Spülbecken laufen, um das Geschirr einzuweichen. Angeekelt goss sie verdorbene Milch aus einer Tetrapackung in den Abfluss und kratzte die Essensreste von den Tellern. Die einfachsten Tätigkeiten waren die schwersten. Lieber eine Anklage gegen einen Serientäter führen, als dem eigenen Vater die Windeln wechseln.
Unwillkürlich sah sie auf die Uhr. Sie hatte das Gefühl, schon ewig hier zu sein, dabei war nicht mehr als eine halbe Stunde
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