Wintermörder - Roman
vergangen. Ungeschickt belegte sie zwei Brote mit Käse, schnitt sie in kleine Vierecke, um dem Vater das Essen zu erleichtern. Zusammen mit dem Tee trug sie alles auf dem Tablett ins Wohnzimmer, während sie krampfhaft überlegte, worüber sie sich unterhalten könnten.
Alles, was sie schließlich sagte, war: »Es ist kalt heute. Und es schneit.«
»So«, antwortete ihr Vater, »es schneit.« Langsam schob er ein Stück Brot in den Mund, um anschließend lange darauf herumzukauen. Er war zurückgekehrt zu dem, was als Einziges noch wichtig war im Leben.
Sie blieb über eine Stunde bei ihrem Vater. Wartete, bis er gegessen hatte. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm von der polnischen Pflegerin zu erzählen, die in drei Tagen in sein Haus einziehen würde. Sie war feige. Einfach feige.
Als sie den Mantel überzog, fragte er mit diesem traurigen Gesichtsausdruck: »Musst du schon gehen?«
Sie seufzte. »Noch ein paar Minuten. Bis die Nachrichten vorbei sind.« Sie zog den Mantel wieder aus, wobei sie vermied, auf die Uhr zu sehen.
Zufrieden lehnte er den Kopf zurück aufs Kissen. Manchmal glaubte sie, dass er einfach nur die Strategie gewechselt hatte, weil er so seinen Willen besser durchsetzen konnte. Als hätte er erkannt, dass er mit Forderungen und Befehlen nicht weiterkam, war er dazu übergegangen, ihr Mitleid einzufordern.
Sobald die Titelmelodie der Nachrichten erklang, schloss er die Augen und schlief von einer Sekunde zur anderen ein. Der Atem ging hörbar in ein lautes Schnarchen über. Der Sprecher erschien. Sie setzte sich in den Sessel. Es begann mit den neuesten Todeszahlen im Irak und der Schneelast auf deutschen Flachdächern.
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Sie könnte sich davonschleichen. Sarah würde gegen neun Uhr kommen und ihm ins Bett helfen. Myriam stand bereits, als ihr Blick wieder auf den Fernseher fiel.
Dieses Haus kam ihr bekannt vor. Ebenso die grauen Fensterrahmen.
Dann schwenkte die Kamera auf einen Mann mit Mikrofon in der Hand:Jost. Was war da los? Verdammt noch mal, wieso stand Jost vor dem Haus von Denise Winkler? Die Anordnung hatte doch eindeutig gelautet: weiträumige Absperrung. Niemand an das Haus lassen. Kein Kontakt der Presse zur Familie. Warum stand jetzt dieser glatzköpfige Parasit dort? Der sich an den Wunden der Gesellschaft satt fraß, sie brauchte, um zu überleben.
Myriam sprang auf, rannte zum Fernseher, suchte die Fernbedienung. »Ich muss das lauter machen.«
Erschreckt wachte ihr Vater auf.
»Wo ist die Fernbedienung?«, rief sie ungeduldig.
Mühsam hob er die rechte Hand, hielt sie mit der linken fest und deutete auf den kleinen schwarzen Kasten.
Verflucht. Die Batterien ließen sich nicht einlegen. Immer wieder verklemmten sie sich, bis sie es endlich geschafft hatte und Josts Stimme das Wohnzimmer füllte.
»Normalerweise kommt der Junge pünktlich um ein Uhr aus der Schule«, erklärte er. »Er hat einen Schlüssel. Doch heute wartete seine Mutter vergeblich auf ihn. Stattdessen erreichte mich der Anruf des Entführers gegen fünfzehn Uhr in der Redaktion.«
Entführer! Das Wort blieb in Myriams Kopf hängen. Frederik Winkler war entführt worden?
Der Supergau.
Zuerst wurde Henriette Winkler getötet und tags darauf ihr Enkel entführt.
»Er sagte wörtlich: ›Frederik Winkler, der Enkel von Carl Winkler«, hörte Myriam Josts Stimme. »Ich habe seinen Enkel bei mir. Und Sie sollen darüber berichten.«
Udo Jost blickte weder ernst noch erschüttert in die Kamera. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, seinen Triumph zu verbergen. Ihm war etwas Außergewöhnliches zugestoßen. Etwas, das einem Journalisten nur einmal im Leben passiert. Die Story fiel ihm direkt in den Schoß. Sie wurde ihm geschenkt. Einfach so. Er war ein glücklicher Mann. Myriam versuchte erneut, sich darauf zu konzentrieren, was Jost mit selbstzufriedener Miene von sich gab.
»Weiter sagte der Mann: ›Sie haben sechs Tage Zeit.‹ Bisher gibt es noch keine Lösegeldforderung. Die Motive des Täters liegen völlig im Dunkeln. Die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet. Udo Jost live für
Brandheiß
.«
Sein Bild wurde ausgeblendet. Myriam starrte auf den Bildschirm, wo nun die Sportnachrichten liefen.
Der Entführer hatte sich direkt an die Presse, an Jost gewandt. Das konnte nur eines bedeuten: Er wollte die Medien für sich. Er wollte, dass die Öffentlichkeit erfuhr, welche Geschichte er zu erzählen hatte.
Ihr Vater sagte
Weitere Kostenlose Bücher