Wintermörder - Roman
er seelenruhig:
Er habe gedacht, es sei ein Verrückter gewesen, sei aber dann unsicher geworden.
«
Liebler traf den singenden Tonfall des Journalisten perfekt.
»Was, wenn der Entführer sich wieder an Jost wendet und nicht an uns? Wir müssen ihn unbedingt dazu bringen, mit der Familie oder der Polizei zu verhandeln. Andernfalls …« Fischer brach ab und schaute Liebler an, der mit der Wasserflasche in der Hand auf und ab ging. Doch dies war kein Zeichen von Nervosität, sondern dieser schien lediglich im Gehen besser nachdenken zu können.
»Warum ausgerechnet diese Familie?«, fragte er. »Was steckt dahinter? Was macht sie so interessant?«
»In verschiedenen Zeitungsartikeln vom letzten Jahr stand, dass die Firma Winklerbau fast Konkurs anmelden musste. Sie hat circa hundert Mitarbeiter entlassen. Vielleicht ein Racheakt?«
Myriam stellte sich auf die Zehenspitzen und erkannte endlich Christian Fuchs, den Leiter der Psychologengruppe aus dem Vermisstendezernat. Immer wieder forderte sie sein Team bei schwierigen Ermittlungen an, um das Gespür der Kriminalbeamten für psychologische Zusammenhänge zu schulen.
Anstelle einer Antwort sagte Fischer: »Wir haben zwei Fälle gleichzeitig. Ich weiß nicht, wie wir das bewältigen sollen bei der Personalknappheit.«
»Ich schlage vor, dass du dich um Henriette Winkler kümmerst, und ich übernehme die Entführung«, antwortete Liebler. »Jeweils zwei Beamte werden sich ständig im Haus aufhalten. Wir arbeiten in zwei Schichten.«
Als Staatsanwältin spielte Myriam in den Augen der Kriminalpolizei lediglich eine repräsentative Rolle. Doch sie würde das nicht akzeptieren. Nicht in so einem Fall. Ihre Kompetenzen waren im Strafgesetzbuch eindeutig festgelegt. Sie war die Herrin der Ermittlungen, nicht Liebler oder Fischer.
»Wenn Ihre Leute nicht reichen«, sagte sie daher laut, »wa-rum wenden Sie sich dann nicht an das LKA?«
Allgemeines Stöhnen. Hier und da traf sie ein genervter Blick.
»Damit die dann die Leitung übernehmen?« Ron Fischer bemühte sich, ihr ruhig zu antworten, was ihm sichtlich schwerfiel. »Das läuft doch immer so, dass wir zu deren Handlangern werden. Wir brauchen keine Aufpasser.«
Bevor Myriam ihm erwidern konnte, dass sie sich kein Risiko leisten konnten, nur weil die Beamten vom LKA die Angewohnheit hatten, FBI zu spielen, öffnete sich hinter ihr die Tür. Der Polizist, der den Raum betrat, hielt das in der Hand, worauf sie alle gewartet hatten: den Umschlag mit einer Nachricht des Entführers, seinen Bedingungen, der Lösegeldforderung. Schweigen lag über dem Raum. Kein At-men, kein Räuspern, kein Husten war zu hören.
Fischer zog Handschuhe über und reichte Liebler ein weiteres Paar. Dann nahm er die Schere in die Hand und begann vorsichtig, den Umschlag zu öffnen. Mit einer Pinzette zog er anschließend ein einzelnes Blatt Papier hervor.
Zum Teufel mit euch, fluchte Myriam innerlich. Zeigt schon!
Fischer gab Nina Vatana ein Zeichen. »Wir brauchen eine Kopie. Das Original bitte sofort zur Spurensicherung.«
Nina Vatana, deren Vater ein thailändisches Restaurant in der Innenstadt besaß, war EDV-Spezialistin und galt als unnahbar und intelligent wie Jodie Foster im »Schweigen der Lämmer«. Ihr schönes Gesicht, eine Kombination aus europäischen Gesichtszügen und asiatischem Teint, wirkte hochkonzentriert, als sie an Myriam vorbei zur Tür hinausging.
Niemand im Raum schien sich zu rühren, bis sie wieder zurück war. Alle saßen wie versteinert auf ihren Stühlen und starrten in die Luft. Die Spannung löste sich erst, als Nina Vatana erneut vorne neben Liebler ihren Platz einnahm. Zusammen beugten sie sich über den Bildschirm des Computers. Sie machten einen vertrauten Eindruck. Hatte Liebler wegen Nina Vatana abgenommen und seinen Kleidungsstil geändert?
Nach und nach wurde das Bild vom Scanner eingezogen. Zentimeter für Zentimeter, bis langsam die ersten Grautöne auf der weißen Wand erschienen.
Was sollte das?
Myriam hatte etwas anderes erwartet, ja erhofft. Einen Brief, Bedingungen, Forderungen, eine hohe Geldsumme. Vielleicht aus Zeitungspapier ausgeschnittene Buchstaben, doch auf keinen Fall das, was vor ihr auf der Leinwand erschien!
Nur eine Fotografie? Eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme aus der Zeit, als die Ränder noch wellenförmig zugeschnitten waren!
Sie versuchte zu erfassen, was sie sah. Es war nicht viel. Lediglich zwei Männer mit dem Rücken zur Kamera und nur im Profil zu
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