Wintermörder - Roman
schneller einschlossen, bis er endgültig verschwunden war.
Sie musste sich entscheiden. Ihre Hand griff in die Flammen. Dabei empfand sie keinen Schmerz. Das Feuer hatte sie innerlich ausgebrannt. Nur noch die Hülle von ihr war übrig. Der Mantel ihrer Haut. Sie flog durch das Feuer wie Glutfetzen.
Schweißgebadet wachte Denise auf. Ihr Atem ging schwer. Im Zimmer war es völlig dunkel, und sie brauchte einige Zeit, um sich darüber klar zu werden, wo sie sich befand. Sie war in Frederiks Zimmer, lag in seinem Bett.
Was passierte mit ihr? Wann hatte das alles angefangen?
Der Gedanke kam ihr, dass es eine Vernichtung gab, die nach außen unsichtbar blieb und die dazu führte, dass es nur noch um das blanke Überleben ging, ja nicht einmal mehr das. Vielleicht bedeutete ein Marathon nicht Stärke, sondern war nur der Versuch wegzulaufen. Ihr Leben lang war sie davongelaufen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war elf. Sie hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren, die im Warten nicht wie sonst dahinkroch, sondern im Gegenteil vorausraste.
Der Schlächter von Polen und ihr Großvater auf der Burg von Krakau. Denise hatte gehört, wie Myriam ihr es erklärte. Sie hatte es auch verstanden, aber sie begriff es nicht.
Und ihr Vater hatte wie immer dazu geschwiegen. Warum konnte sie sich nie auf ihn verlassen? Warum war er ihr nie eine Hilfe? Jetzt auch nicht? Ja, mochte sein, dass er keine Ahnung hatte, was das Foto bedeutete. Dass er nichts wusste von Verbindungen seines Vaters zu Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen. Aber wann hatte er jemals etwas gewusst? Wann hatte er es je wissen wollen? Nie. Verdammt, das war die Wahrheit.
»Die Aufnahme wurde in Krakau auf dem Wawel gemacht, auf der so genannten Sandomierska Bastei«, hatte Liebler erklärt. »Das ist ein Turm auf der Krakauer Burg, in der Hans Frank in der Zeit der Besetzung Polens mit seiner Familie wohnte. Was heißt wohnte, er herrschte dort, führte das Leben eines Königs. Er hielt Besprechungen mit der SS im Krönungssaal ab. Dort wurde über das Leben von Millionen von Menschen entschieden.«
Und ihr Vater?
Er zuckte einfach mit den Schultern.
Hatte er sich nie gefragt, was seine Eltern im Krieg gemacht hatten? Verdammt, es wäre seine Pflicht gewesen, danach zu fragen.
Denise schaltete das Licht aus. Das Feuer war sofort wieder da. Das Einzige, was immer läuft, sozusagen im Standby-modus, hatte die Psychologin erklärt, ist das Unterbewusstsein. Es ist ein Aktenschrank ohne Ordnung. Erst die Erinnerung bringt System in das Chaos von Gefühlen und Erlebnissen, indem sie diese zu Geschichten verknüpft.
Wie hatte sie es vergessen können.
Das Einkaufszentrum war eines der ersten internationalen Projekte gewesen, das Oliver an Land gezogen hatte. Ein absolutes Prestigeobjekt mit mehr als zehntausend Quadratmeter Verkaufsfläche und einer traumhaften Aussicht auf den Wawel und die Weichsel.
Wawel. Wawel. Der Wohnsitz des Schlächters von Polen, der so unscheinbar Hans Frank hieß. Der auf dem Foto harmlos wirkte. Geradezu heiter. Wie ihr Großvater. Doch unter seiner Verantwortung waren Menschen ermordet worden. Kinder. Mütter.
Mord gehörte zu seinem Denken, seinem Alltag. Es gab Synapsen in seinem Gehirn, die zwischen Mord und Kind eine Verbindung herstellten. Die verschlungenen Grausamkeiten seines Bewusstseins. Es war kein Trost, dass man ihn für seine Verbrechen gehenkt hatte.
Vor genau sechs Monaten waren Oliver, Frederik und Denise in Krakau gewesen. Ihr Hotel lag direkt in der Innenstadt, nur eine Minute vom Marktplatz entfernt, mitten im Trubel dieser seit dem Mittelalter fast unveränderten Stadt. Am ersten Abend in Krakau waren sie einer Einladung des Bürgermeisters in eines der besten Restaurants Krakaus gefolgt. Er hatte Oliver hofiert. Die Presse war da gewesen. Artikel waren in der Zeitung erschienen. Oliver hatte sich als Wohltäter gefühlt. Sie hatte es seinem gönnerhaften Gesicht angesehen.
Am nächsten Tag stand er im Bad und rasierte sich, während sie Frederik die Krawatte umband. Er ließ sie sich anlegen wie eine Hundeleine. Saß still, als ob jemand »Platz« gesagt hätte.
Denise hatte zu Fuß gehen wollen, doch Oliver bestellte ein Taxi. Er konnte doch nicht zu Fuß zu der offiziellen Einweihungsfeier kommen. Der Taxifahrer, dessen goldene Zähne in der Sonne aufblitzten, bot ihnen bereits nach wenigen Metern eine Flasche Wodka an.
»Fünf Euro«, sagte er.
Sie hätte sie gekauft, auch wenn
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