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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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durchgesessenen Rückbank aus Kunstleder aufhielt. Sie stieg ein, presste Frederik fest an sich. Der Mann fasste wieder unter den Sitz und zog denWodka hervor. Sie hatte ihn vor Oliver versteckt. Erst im Koffer, dann hier im Gefrierfach, in das er garantiert nie schauen würde. Ohne nachzudenken, goss sie sich ein Glas ein.
    War der Brand der Anfang gewesen? Ja, er hatte eine Bedeutung, auch wenn ihr noch unklar war, welche. Denise war sich sicher, dass sie diese Spur zurückverfolgen musste, um ihren Sohn zu finden.
    Sie griff zu ihrem Handy, bis ihr einfiel, dass sie Myriams Nummer nicht gespeichert hatte.
    Im Flur saßen die beiden Beamten vor ihren technischen Geräten, offenbar geübt darin, im Sitzen zu schlafen. Sie bot ihnen ebenfalls Wodka an, den sie ablehnten. Sie waren rücksichtsvoll bis zur Unsichtbarkeit und ignorierten ihr seltsames Verhalten.
    »Haben Sie die Nummer von Frau Singer?«, fragte sie, und als sie diese in der Hand hielt, sagte sie: »Außerdem brauche ich eine Rufumleitung.«

15
    Die Mazurka von Chopin riss Myriam aus dem Schlaf. Sie war todmüde ins Bett gefallen, nachdem sie vergeblich versucht hatte, die Büchersendung zu Ende zu sehen. Irgendwann war ihr die Moderatorin auf die Nerven gegangen. Ihr Vortrag war ihr im Halbschlaf wie eine Predigt erschienen, eine Dauerbelästigung in Sachen Geschmack, ein unerträglicher Moraltinnitus. Und immer wurde die Liebe so unnatürlich geschildert, als handelte es sich dabei um eine Krankheit. Um körperliche Beschwerden. Wie sollte man leben, wenn nicht einmal die Liebe Hoffnung brachte. Die Gewissheit, dass irgendetwas gut war in dieser Welt.
    Die Augen geschlossen, tastete sie am Boden entlang, bis sie das Handy zwischen den Fingern spürte. Die Melodie hatte jegliche Musikalität verloren. Sie klang lediglich blechern und schrill. Mike hatte Chopin gequirlte Scheiße genannt, nur Santana oder Pink Floyd gehört und die Klassik als Musik des Bürgertums bezeichnet. So hatten sie damals gesprochen. Weil alles verdächtig war, was nach Establishment klang.
    Mike war tot, aber Chopin lebte.
    Die Uhr auf dem Handy zeigte dreiundzwanzig Uhr zwanzig.
    »Singer.«
    »Krakau.«
    Denise’ Stimme hatte einen Unterton von Entschiedenheit.
    »Was?«
    »Krakau. Wir waren dort vor einem halben Jahr.«
    »Wer?«, fragte Myriam verschlafen.
    »Oliver, Frederik und ich. Es gab einen Brand. Auf der Baustelle. Genau zu dem Zeitpunkt, als das Gebäude eingeweiht werden sollte.«
    »Einen Brand?«
    »Wer hat am ehesten Interesse daran, die Brandursache herauszufinden?«
    »Was meinst du?« Noch immer verstand Myriam nicht, worum es Denise ging.
    »Die Versicherung. Es gab Probleme mit der Versicherung, verstehst du. Wegen der Brandursache. Die Unterlagen sind in der Firma. Wir müssen sie holen.«
    »Jetzt?«
    »Ja.«
    Nun war Myriam hellwach. »Denise, das geht nicht. Du musst zu Hause am Telefon bleiben.«
    »Ich habe eine Rufumleitung aufs Handy. Aber er wird nicht anrufen. Er hätte es schon längst tun können. Ich kann nicht mehr warten, sonst werde ich verrückt. Ich zerkratze meine Arme, reiße mir die Haare aus. Ich möchte mit einer glühenden Zigarette Löcher in meinen Verstand brennen. Ich möchte das Zischen hören, um zu vergessen. Verstehst du? Mein Sohn und ich werden für etwas bestraft, das mein Großvater getan hat.«
    »Du wirst nicht bestraft.«
    »Doch, das werde ich.« Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende, dann fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll.«
    »Letzten Endes ist es das Geheimnis des Lebens«, sagte Myriam, »dass wir alles irgendwie überstehen.«
    Denise’ dunkelgrauer Sharan wartete bereits mit ausgeschalteten Scheinwerfern vor dem Firmengebäude an der Ecke Golub-Lebedenko-Platz und Kleyerstraße. Ein Gebäude im Stil der fünfziger Jahre, das offenbar vor kurzem mit Glas, leichten Jalousien und einem neuen Empfangsbereich aufgepeppt worden war.
    Myriam stieg aus und schaute zum Himmel hinauf. Die Wolken hingen tief. Es sah erneut nach Schnee aus. Fröstelnd rannte sie auf den Sharan zu und klopfte an die Scheibe. Denise öffnete die Wagentür, und als Myriam sich neben ihr auf den Beifahrersitz schob, roch sie den Alkohol. In Denise’ Gesicht lag ein neuer Ausdruck von Entschlossenheit, der offenbar wie ein Geist aus der Wodkaflasche in ihrer Hand über sie gekommen war
    »Tausend Kilometer«, sagte Denise.
    »Was?«
    »Tausend Kilometer, so weit ist es nach Krakau. Vielleicht

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