Wintermörder - Roman
der Lieferant. Nicht derjenige, der verantwortlich war. Nicht der Politiker, der log. Er erschoss auch keine anderen Menschen, er war nicht korrupt, er vergewaltigte niemanden. Er war nur der Geschichtenerzähler.
Das Porträt von Oskar Winkler für den heutigen Bericht war noch etwas unscharf. Als Tobler fragte, wer ihn bei seinen Recherchen unterstützen könnte, hatte er Ramona Neuberger vorgeschlagen. Sie waren gestern Abend zusammen in einer Bar gewesen.
»Was hast du herausgefunden?«, hatte er gefragt.
»Nichts.«
»Wie, nichts?«
»Die Archivunterlagen sind im Krieg verloren gegangen.«
»Was so viel heißt wie, dass sie vernichtet wurden oder unter Verschluss gehalten werden.«
»Tatsache ist, dass das Bürogebäude im März 1945 tatsächlich bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Oskar Winkler wurde dabei schwer verletzt und kam in ein Krankenhaus. Er hat den rechten Arm verloren.«
Noch vor drei Tagen war sie ihm jung und attraktiv erschienen. Sie hatte nach Hormonen gerochen. Doch nun saß sie vor ihm, die Schminke nur noch eine Maske, die sich mit einem Ruck ablösen ließ. Ein Alkoholspiegel bis hoch zu den Pupillen. Der Rock nach oben gerutscht, sodass er den Spitzenrand der Seidenstrümpfe nicht nur erahnen musste. Er konnte ihn vielmehr deutlich sehen. Da war sie, die Grenze. Er musste nur noch Gas geben.
»Und mehr hast du nicht?«
»Was willst du denn noch?«
Er beugte sich zu ihr hinüber. »Alles will ich. Mach einfach deinen Job.«
Er hatte geglaubt, sie sei clever, wenn es galt, an Informationen zu kommen. Sie würde nicht aufgeben. Doch er hatte sich getäuscht.
Seit zwei Tagen saß die Polizei unten im Foyer. Jeder Anruf wurde kontrolliert. Doch es hatte lediglich Anrufe von Kollegen anderer Sender oder Zeitungen gegeben, die ein Interview mit ihm wünschten. Sie stellten ihm immer wieder dieselben Fragen.
Was hatte der Entführer gesagt?
Wie hatte er es gesagt?
Wie war seine Stimme gewesen? Wie klang sein Akzent?
Und wie hatte er sich selbst gefühlt? Hatte er Angst gehabt?
Hatte er gleich verstanden, worum es ging?
Wie war er auf die Spur von Hans Frank gekommen?
Er gab sich zurückhaltend. Und bereute. Im Tiefsten seiner Seele bereute er, dass er die Polizei so schnell informiert hatte. Wieder der Beweis dafür, dass er im Grunde seines Herzens feige war. Dass er nicht den Mut hatte, den ein guter Journalist braucht. Nicht den Biss, nicht die Courage, nicht die Fähigkeit, bis an die Grenze der Wahrheit zu gehen. Der echten Wahrheit, nicht die, die die Medien so gerne konstruierten. Doch er hatte noch immer einen Trumpf in der Tasche. Langsam griff er zu seinem Handy. Er hatte die Nummer gespeichert. Er hatte lange überlegt, unter welchem Namen, hatte sich dann jedoch einfach für
Anrufer
entschieden. Es dauerte, bis die Verbindung zustande kam. Er hätte fast schon aufgegeben, als sich jemand meldete. Es klang wie
Hallo
.
»Hallo«, sagte er ebenfalls. »Wer spricht da?«
Die Antwort, die folgte, schockierte ihn. Ein Redeschwall, den er nicht verstand. Hier plapperte jemand in sein Handy ohne Punkt und Komma und klang dabei irritierend gut gelaunt, noch dazu in einer fremden Sprache.
Er antwortete nicht, hörte nur immer wieder: »Hallo, hallo.« Und dieses alberne Kichern. Am anderen Ende war jemand nicht allein, sondern amüsierte sich köstlich über seinen Anruf.
Erschreckt beendete er das Gespräch und starrte das Handy an. Die Stimme hatte jung und fast noch kindlich geklungen. Nur im ersten Moment hatte er gedacht, es sei die von Frederik Winkler. Doch es war eine andere Sprache gewesen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war sich Jost, dass ein Mädchen am anderen Ende gewesen war. Ein junges Mädchen. Ein Teenager, dem jeder Tag, mit dem er erwachsen wurde, nicht tragisch, sondern extrem lächerlich erschien.
Wenige Sekunden später klingelte sein Handy wieder.
Rolling Stones. Jumpin’ Jack Flash
. Er hatte sich die Melodie aus dem Internet geladen. Die Bässe allerdings waren völlig verloren gegangen.
»Hallo.«
Er erkannte die Stimme sofort wieder.
Hatte sie die ganze Zeit im Ohr gehabt.
»Ja.«
»Gute Arbeit«, sagte der Mann. »Sie verstehen Ihr Geschäft.«
Kurzes Schweigen am anderen Ende.
»Die Polizei ist im Haus, aber Sie wissen nicht, dass Sie meine Handynummer haben. »
»Gut.«
Warum glaubte ihm der Mann so einfach?
»Haben Sie Post bekommen?«
»Post?« Josts Augen suchten den Stapel auf dem Schreibtisch.
»Ein
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