Wintermörder - Roman
Umschlag. Groß. Weiß.«
Josts Hand brachte den Stapel zum Kippen. »Da sind viele Umschläge.«
»Erst die Presse, dann geben Sie es der Polizei.«
»Was ist mit dem Jungen? Ist er gesund? Lebt er noch? Wann kann er nach Hause zurück? Was ist mit Lösegeld? Warum haben Sie es ausgerechnet auf die Familie Winkler abgesehen?«
Udo Jost kam sich vor wie bei einem Gewinnspiel. Möglichst viele Fragen in möglichst kurzer Zeit.
»Das werden Sie alles erfahren.«
»Ich möchte ein Lebenszeichen des Jungen.«
»Wenn ich sage, er lebt, dann ist das die Wahrheit.«
Die Idee kam ganz plötzlich »Hören Sie, ich kann Sie dafür bezahlen. Der Junge muss nur einmal bei mir anrufen.«
Stille.
»Ich gebe Ihnen dafür fünfzigtausend Euro.«
»Sie sind sehr mutig«, antwortete der Mann und legte auf.
Was hatte Jost über die Familie Winkler geschrieben? Wer sich in ein Verbrechen begibt, kommt darin um. Im Moment, so hatte Jost das Gefühl, traf das ebenso auf ihn zu. Er hatte dem Entführer ein Vermögen dafür versprochen, dass er ihm exklusiv ein Lebenszeichen des Jungen zukommen ließ. Vielleicht war er verrückt, vielleicht war es aber auch seine Chance.
Er riss den Stapel Post an sich. Materialien zu allen möglichen Themen, Leserbriefe, Einladungen, Werbematerial und ganz unten ein Umschlag. Sein Name war mit Schreibmaschine auf das Etikett geschrieben. Er fühlte sich leicht an.
Ungeduldig riss er den Umschlag auf. Heraus fiel ein Blatt. Die Kopie eines Fotos. Ein Anblick, der ihn in Erregung versetzte. Ein Spatenstich. Lachende Gesichter.
Verdammt, die Polizei könnte an seinem Handy erkennen, dass er versucht hatte, den Entführer auf eigene Faust zu erreichen.
Und sollte er von dem heutigen Anruf erzählen?
Er konnte es verschweigen, oder? Er musste nur klug vorgehen, strategisch planen wie der Entführer.
I did it my way!
Die Polizei hatte sich nicht um seine Post gekümmert. Oder doch? Sie war bereits geöffnet. Bis auf diesen Umschlag. Wie war er auf seinen Schreibtisch gelangt?
Udo Jost hatte das Gefühl, dass der Entführer nicht nur eine interessante Geschichte hatte, sondern auch noch intelligent und raffiniert war. Jemand, der wusste, was er tat, und dem es nicht so sehr um Geld ging, sondern um etwas anderes.
Dinge, die man nicht für Geld tat, machten frei.
Was auch immer dessen Ziele waren, eines wusste Jost: Der Unbekannte wollte die Familie Winkler zu Grunde rich-ten. Nicht finanziell, sondern emotional und gesellschaftlich. Er wollte ihren Ruf vernichten. Er wollte sie durch den Morast der Geschichte ziehen. Sie im Schlamm stehen sehen. Dass sie dann erledigt sein würden, was das Unternehmen betraf, war nur noch eine Frage der Zeit.
Wieder drehte er das Foto um. Er wusste, was er finden würde. Er suchte in der Schreibtischschublade nach dem Vergrößerungsglas.
Er kannte die Geschichte, die der Mann erzählen wollte. Sie hatte ein einfaches Konzept, das noch immer funktionierte.
Er würde beweisen, dass er der richtige Ansprechpartner war.
Als er auf dem Foto fand, wonach er gesucht hatte, bemerkte er plötzlich, dass er dringend pinkeln musste.
17
Als Myriam Singer ihre Wohnungstür öffnete, um nach der Zeitung zu greifen, stellte sie fest, dass eine Steigerung des Zeitungskrieges erfolgt war. Das Nachrichtenblatt lag zerschnitten auf der blauen Fußmatte. Nicht einfach zerrissen, wie es manchmal passiert, wenn das Papier vom Regen oder Schnee aufgelöst ist. Nein, jemand hatte die Zeitung mit einer Schere bearbeitet und sie dann vor ihre Tür gelegt. Als Myriam das Loch näher betrachtete, erkannte sie die Form eines Hakenkreuzes, und die Headline war nur noch zu erahnen:
Der Schlächter von Krakau. Die Geschichte holt die Frankfurter Unternehmerfamilie Winkler ein. Staatsanwältin Myriam Singer klagt an:War Oskar Winkler ein Freund des Henkers von Polen?
Ihre erste Reaktion war, dass sie nichts damit zu tun haben wollte. Der zweite Gedanke, dass sie Henri Liebler anrufen sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Zeitungen lebten von Mythen. Der Artikel klang nicht anders als die moderne Moritat vom Serienmörder, und im rechten Licht betrachtet war Hans Frank, Generalgouverneur von Galizien, nichts anderes gewesen. Ein Serienmörder, der von einem deutschen Richter allenfalls zu fünfmal lebenslänglich verurteilt würde. Aus dem Urteil sprach die Hilflosigkeit der Justiz. Ein Urteil, das nie vollstreckt werden konnte. Genauso wenig wie das Urteil ewige Verdammnis. Das
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