Wintermörder - Roman
ein großes Risiko ein.«
»Und vergessen Sie nicht, er hat Jost eine Frist genannt. Wir haben nur noch vier Tage und wissen nicht, was er dann vorhat.«
Am anderen Ende ein kurzes Schweigen. Dann Lieblers Stimme. »Wir sollten weiter die Theorie verfolgen, dass es sich um einen Racheakt handelt.«
»Wofür und warum Rache nehmen an einem Kind?«
»Offenbar will er, dass wir genau diese Fragen beantworten und sie auch noch der ganzen Welt mitteilen. Deshalb die Presse.«
»Ist er tot?«, fragte sie. »Ist Frederik tot?«
»Solche Gedanken haben keinen Sinn. Sie führen nur dazu, dass man aufgibt. Schlafen Sie gut.«
Henri Lieblers Wunsch ging in Erfüllung. Myriam ließ sich ins Bett fallen und fiel in den tiefen Schlaf der Verdrängung, noch ehe ihr Gesicht das von der letzten Nacht noch zerknitterte Laken berührte. Weit entfernt hörte sie das Telefon klingeln. Als sie am Morgen erwachte, erschrak sie, weil der Wecker so laut an ihrem Ohr piepste, als ob er dort implantiert wäre. Dennoch fühlte sie sich erstaunlich erholt nach dieser Nacht. Ihr Körper ließ sie nicht im Stich. Vielleicht war er dankbar, weil sie ihn ständig mit neuen Schuhen verwöhnte, anstatt ihn mit Nikotin zu quälen.
Nachdem sie den Wecker abgeschaltet hatte, blieb sie noch einige Minuten mit geschlossenen Augen liegen.
Gestern Abend auf dem Parkplatz vor dem Bürogebäude hatte Myriam ununterbrochen auf Denise eingeredet.
»Er ist gefühllos und zynisch. Welcher Mann macht so et-was? Statt bei dir zu sein …«
»Das ist kein Verbrechen, oder?«, hatte Denise geantwortet. »Gegen Ehebruch gibt es keine Gesetze. Es ist nicht strafbar, und nicht einmal du kannst es ändern.«
Die Worte hatten Myriam getroffen. Denise wollte sie verletzen, indem sie ihr vor Augen führte, dass ihre Macht nicht weit reichte. Nur mühsam brachte sie die Frage heraus, ob sie bei Denise bleiben sollte.
»Ich bin ja nicht alleine im Haus«, hatte Denise geantwortet. »Falls also mein Mann versuchen sollte, dasselbe mit mir zu tun wie mit seiner Assistentin, kann ich ja die beiden Beamten zu Hilfe holen.«
In Denise’ Verhalten lag etwas, das Myriam nicht verstand.
Etwas, das nicht nur mit Frederiks Entführung zusammenhing.
Es war schon vorher da gewesen.
Vielleicht schon immer.
Es war Hoffnungslosigkeit.
Zofia
Freitag, 2. Januar 1942
Der Zug rattert die Schienen entlang. In dem vollgepferchten Viehwagon liege ich auf dem blanken Boden und brenne vor Fieber und Durst. Vor Schmerzen beginne ich zu wimmern.
»Hast du Angst?«, fragt das Mädchen neben mir. Sie ist hochgewachsen und trägt die langen, schwarzen Haare offen, was meine Mutter nie erlauben würde.
»Du hast Fieber. Und aus deinen Ohren kommt Eiter. Du musst sie warm halten.« Ihre Stimme ist laut, obwohl sie flüstert. In den letzten Stunden ist die ganze Welt lauter geworden. »Hier, nimm das.« Sie nimmt den Schal von ihren Schultern und wickelt ihn um meinen Kopf.
Irgendwann schlafe ich ein. An jeder Schwelle schlägt mein Kopf auf den nackten Boden. Das Rattern wird lauter und lauter.
Ich träume. Wir stehen auf dem Bahnhof in Krakau. Meine Mutter hält Leszek fest im Arm. Ich möchte ihn ihr wegnehmen, doch sie lässt ihn nicht los.
»Wir warten hier, bis dein Vater kommt«, sagt sie streng, zieht an ihrem Zigarettenstummel und bläst Leszek den Rauch in den Mund, bis er hustet.
Ich spüre einen Luftzug, höre ein Flattern, und als ich den Kopf hebe, sehe ich zwei schwarze Vögel davonfliegen.
Jemand rüttelt mich an der Schulter. Verwirrt schlage ich die Augen auf.
»Du musst aufstehen.« Das Mädchen steht über mich gebeugt. »Wir sollen aussteigen.«
»Wo sind wir?«
Sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Menschen um mich herum stehen auf und drängen sich nervös und aufgeschreckt vor den Ausgang, wo ein eisiger Wind durch die Schiebetür des Wagons weht.
Von hinten werde ich nach vorne gestoßen. Als ich an der Schiebtür stehe, ruft jemand:»Schnell, schnell!«
Mit letzter Kraft springe ich in den Schnee hinunter, doch ich bin zu müde, um mich aufrecht zu halten. Das Mädchen zieht mich hoch und hält mich fest. Im weißen Schnee stecken aufgereiht dunkel gekleidete Menschen wie Pfähle. Endlos erstrecken sie sich über eine Reihe von Wagons.
Ich bücke mich, um mit einer Handvoll schmutzigen Schnee den Durst zu löschen und meine heiße Stirn zu kühlen.
Dann werden wir in einen riesigen, fensterlosen Raum geführt. Wir müssen uns alle ausziehen. Als
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