Wintermörder - Roman
sich die Tür schließt, tritt eine unheimliche Stille ein, die andauert, bis plötzlich tatsächlich Wasser auf uns herabströmt. Wir alle haben Durst und stellen uns mit offenem Mund darunter. Manche lachen erleichtert.
Nachdem wir die Dusche verlassen haben, gehen wir in den Nebenraum. Krankenschwestern übergießen unsere Köpfe mit einer stinkenden Flüssigkeit. Sie dringt in die Augen, in den Mund und in meine Ohren, bis ich vor Schmerzen schreie. Ich spüre, wie sie den Hals hinunterläuft, und schlucke. Es schmeckt nach Benzin.
Eine der Frauen in Uniform deutet auf mich, lacht und ruft auf Deutsch: »Die Läuse kommen ihr sogar aus dem Mund.«
Das Wort verstehe ich nicht. Ich habe es weder auf dem Lyzeum gelernt noch später bei Frau Kusiakowa, die uns in ihrer kleinen dunklen Wohnung in der Kopernikusstraße unterrichtete. Wir müssen die Sprache unserer Feinde kennen. Wie oft habe ich sie das sagen hören.
Deutsche Frauen in Uniform treiben uns in der Reihe weiter, an einer Männergruppe vorbei, die sich nach uns Richtung Dusche bewegt. Einer der Soldaten starrt in meine Richtung, direkt auf meinen nackten Körper. Ich habe nur zwei Hände, um meine Brust und meine Scham zu bedecken. Und schließe die Augen, um seinen gierigen Blick nicht sehen zu müssen.
Als die Männer verschwunden sind, dürfen wir uns wieder anziehen. Dann scheuchen sie uns aus der Baracke hinaus in den Schnee, wo wir warten müssen. Bei klirrender Kälte sitzen wir auf vereisten Baumstämmen. Wir wissen nicht, was mit uns passieren wird.
Irgendwann kommt der nächste Zug.
Und wieder in denWagon.
Die Türen werden zugeschoben und verriegelt. Das Mädchen sitzt wieder neben mir. Als ich vor Schmerzen weine, legt sie meinen Kopf auf ihren Schoß. Ich falle in einen unruhigen Schlaf.
Wir fahren weiter.
Kilometer um Kilometer.
Viele Frauen beten.
Einige Männer stehen an der Wagontür und starren durch den Spalt, durch den der Wind pfeift. Wenn sie den Namen eines Bahnhofs erkennen, rufen sie ihn laut. Inzwischen ist der Lärm und der Gestank in dem überfüllten Wagon schlimmer als die Kälte und der Hunger.
Ich wache davon auf, dass jemand Warszawa ruft. Warszawa, Warszawa.
»Wir fahren durch die Stadt«, ruft der Mann vorne an der Wagontür aufgeregt. Wir alle hoffen, dass der Zug hält, doch er fährt und fährt. Wir starren auf ihn in der Hoffnung, dass er noch etwas sagt. Doch er schweigt. Und als er sich endlich umdreht, ist sein Gesicht von Tränen überströmt.
»Übrigens«, flüstert das Mädchen neben mir. »Ich heiße Magda. Und du?«
Ich antworte nicht, sondern frage: »Was hat sie damit gemeint, dass sie mir aus dem Mund kommen? Was kommt mir aus dem Mund?« Ich wiederhole das Wort, das die Aufseherin in der Dusche gesagt hat.
»Läuse«, lacht Magda fröhlich. »Sie haben vor den Läusen mehr Angst als vor uns.«
Vier Tage
16
Udo Jost stellte zu seiner Befriedigung fest, dass das Mädchen am Empfang ihn geradezu anstrahlte, bevor sie ihm seinen Poststapel übergab. Überhaupt war das Lächeln in die überarbeiteten Gesichter seiner Kollegen zurückgekehrt. Jetzt galt es nur, dafür zu sorgen, dass es blieb und nicht dem höhnischen Grinsen der letzten Monate wich.
Er sah auf die Uhr. Für die Sendung an diesem Mittwoch brauchte er etwas Neues.
Frischfleisch
, wie Tobler es nannte. Das Thema Hans Frank war durch. Zweimal hatte es einen Bericht über den Generalgouverneur in der Sendung
Brandheiß
gegeben.
Vom Mitglied des Reichstages über den bayerischen Justizminister zum Gouverneur von Polen. Ein steiler Aufstieg. Eine große Karriere.
Hans Frank: ein kurzes Leben, gelebt in dem Wahn, er sei erfolgreich, ein Gewinner.
Und dann mit sechsundvierzig Jahren Vollzug der Todesstrafe durch den Strang.
Hatte sich das gelohnt?
Jost hatte den Bericht selbst kommentiert. Hatte es geschafft, seiner Stimme diesen Tonfall zu geben, mit dem man Geschichte zitiert. Kurze, knappe Sätze, Namen, Da-ten. Wann durfte er schon einmal das Wort
Galgen
verwenden oder
Herrscher
oder
Vollstrecker
?
Er wusste, wie man über seinesgleichen dachte. Er kannte die Vergleiche. Hyänen, Schakale, Geier, Schmeißfliegen.
Tiere, deren hauptsächliche Nahrung aus Kadavern be-stand. Noch bevor ein Tier starb, waren sie da. Kreisten am Himmel, saßen wartend in der Nähe, bevor sie sich gierig auf die Beute stürzten. Doch er, Jost, war es doch nicht, der den Abfall fraß. Es waren die anderen, die Gaffer, die Voyeure. Er war nur
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