Wintermörder - Roman
überlebt.
Eine weitere Schublade mit gedruckten Einladungen, Gästekarten, Programmzetteln der Frankfurter Oper.
Sie zog sie heraus, blätterte sie durch.
Oberbürgermeister Friedrich Krebs bittet zu einem Empfang des Führers und Reichskanzlers im Römer anlässlich des ersten Spatenstiches für den Bauabschnitt der Autobahn Frankfurt — Mannheim am 23. September 1933.
Sie hatte sich nicht getäuscht: Henriette Winklers Geist war noch hier.
Auch wenn die Wände kahl waren, weil die Polizei die Bilder, die der Täter abgehängt hatte, weggebracht hatte. Und wieder fragte sich Myriam, was diese eigentlich mit der ganzen Sache zu tun hatten.
20
Der schwarze Asphalt glitzerte, und der Frost knisterte unter den Ledersohlen der Cowboystiefel, als sie neben Henri Liebler auf die Schlange zuging, die sich in klirrender Kälte vor der Weinstube in Sachsenhausen gebildet hatte.
Die Straße war wieder mit einer dünnen Eisschicht belegt. Den ganzen Tag hatte der Verkehrsfunk vor erneutem Blitzeis gewarnt, ein Wort, das seit Tagen durch die Medien geisterte. Sie würde für den Rückweg die U-Bahn nehmen müssen, doch nichts würde sie jetzt dazu bringen können, alleine zu Hause zu sitzen. Allerdings hatte sie keine Ahnung, weshalb Liebler sich zielsicher Richtung Eingang bewegte, da sie kaum eine Hoffnung hatte, einen Platz in dem Restaurant zu finden. Doch Liebler drängte sich an den Wartenden vorbei. Als ein Mann in Begleitung einer aufgedonnerten Frau, die einem Blondinenwitz entsprungen schien, protestierte, zog er seine Dienstmarke hervor, als handelte es sich hier um eine Szene aus
Stirb langsam
mit Bruce Willis.
Myriam konnte sich dieses Verhalten nicht anders erklären, als dass der Kommissar hier Stammgast war. Jedenfalls verschwand das Schild
Reserviert
auf dem Tisch am Fenster unbemerkt, noch während die Kellnerin ihn mit Küsschen begrüßte.
»Die Weinstube ist ein Geheimtipp«, schrie Liebler und ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Bei dem Andrang scheint das Geheimnis inzwischen gelüftet. Es ist nicht meine Art, anderen Leuten den Platz wegzunehmen. Ich hoffe, wir treffen niemanden, der uns kennt. Sie haben soeben Ihre Dienstmarke missbraucht. Ich nenne das Amtsanmaßung.«
»Der Tisch war für mich reserviert. Es ist nicht immer so voll, aber bei dem Wetter sucht jeder nach einem warmen Platz.« Liebler reichte ihr die Karte. »Was möchten Sie?«
»Irgendetwas.«
»Ist Ihnen kalt?«
»Was meinen Sie denn? Dass ich nach diesem Tag unter Hitzewallungen leide?«
»Menschen reagieren unterschiedlich. Wollen Sie meine Jacke?«
Myriam schüttelte energisch den Kopf. Sein Verständnis von Aufsichtspflicht ging ihr auf den Keks. So gewaltig, dass sie bedauerte, nicht laut sagen zu können, dass er ihr gewaltig auf die Nerven ging.
Er begab sich zur Theke.
Eine Gruppe von Männern lachte laut auf. Auch das ging ihr auf die Nerven. Ein ruhiges Restaurant wäre ihr lieber gewesen. Sie wollte reden. Und jetzt war sie hier gelandet, weil sie Liebler die Entscheidung überlassen hatte. Ein Fehler. Sie sollte bei Liebler auf der Hut sein. Seine Haare waren zwar nicht so dicht wie die des Angorakaters, doch ansonsten hatte er mit diesem viel gemeinsam.
Als er wieder an den Tisch zurückkam, trug er ein Tablett in seinen großen Händen. »Ich habe Ihnen einen Grog mitgebracht. Der ist hier eine Spezialität. Bei Ihrem Outfit heute können Sie nur ein argentinisches Westernsteak essen. Ich habe also zwei bestellt. Blutig. Dem Anlass entsprechend.«
Myriam zuckte mit den Schultern. »Bei Ihrem Hobby habe ich mit Fisch gerechnet.«
»Ich esse keine Tiere, die ich persönlich kenne. Trinken Sie, dann wird Ihnen warm.«
Der erste Schluck verbrannte ihr die Zunge. Der Schmerz tat gut. Der Rum brannte in der Kehle. Auch gut.
»Sie sind fertig«, sagte Liebler.
»Ja.«
»Ich muss Ihnen etwas zeigen. Oliver Winkler hat mir die-se Liste gegeben. Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Mitarbeiter, Baustellen etc. Da stehen mindestens fünfzig Polen darauf, die irgendwann für die Firma gearbeitet haben. Allein zwanzig in Krakau.«
»Ja«, sagte Myriam müde, »es klingt logisch, dass es einer von ihnen war. Geradezu berechenbar logisch. Aber so jemand ist hinter Geld her, will daran verdienen. Was hier abgeht, ist etwas anderes.«
»Rache?«
»Vergeltung«, sagte Myriam.
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein.«
»Lassen wir Gefühl oder Moral einmal außen vor«, meinte Liebler. »Betrachten wir die Sache
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