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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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eigentlich meine«, er beugte sich ganz nahe zu ihr hinüber, »ist, dass ich seit drei Tagen den Wunsch habe, dich nicht nur zu küssen, verstehen Sie?«
    In diesem Moment wusste Myriam genau, dass er nicht aufgeben würde. Er meinte es ernst. Er hatte noch nicht genug Alkohol getrunken, um es nicht ernst zu meinen. Seine Hände griffen zu verzweifelt in seine blonden Haare, seine Augen waren zu klar und seine Hand, die abrupt aus dem Hinterhalt ihre ergriff, zu warm.
    »Ich weiß«, fuhr er fort. »Du hältst mich für einen fett gefressenen emotional leer stehenden Restposten …«
    »Was soll das denn sein? Ein emotional leer stehender Restposten?«
    Myriams Widerstand war gebrochen. Angesichts dieser seltsamen Liebeserklärung war ihr plötzlich zum Lachen. Der Grog heizte sie auf wie ein Tauchsieder. Der Geräuschpegel um sie herum verschmolz zu einem Dröhnen. Nein, es war ihr Inneres, das Alarm schlug. Er hatte die Angst benannt, die sie seit Tagen, seit Monaten empfand. Das Gefühl der Zukunft. Emotional leer stehen. Wenn alles egal ist. Wenn du die Welt durch ein Fernrohr betrachtest und froh darüber bist, weil du nur einen Ausschnitt siehst, mehr nicht. Nur ein Stück Himmel, nur den Mond, nur ein winziges Stück Welt, nur den Mann vor einem. Aber es genügt, weil alles andere zu viel ist.
    Er zündete die nächste Zigarette an. Sie nahm sie ihm weg. Ihre Finger berührten seine Hand. Mein Gott, war die heiß. Auch in seinen Adern floss Grog.
    Sie nahm einen Zug. Der Rauch floss ihre Lungen hinunter. Es war ein Fehler. Aber ein verzeihlicher. Es war kein Verbrechen. Niemand klagte sie an. Der Glühwein schlug Flammen. Rote Flecken auf ihrer Hand.
    »Hören Sie auf, Liebler«, lachte sie. »Sie wissen sonst morgen nicht mehr, wie Sie aus der Geschichte je wieder herauskommen.«
    Doch Liebler beugte sich zu ihr hinüber. »Ich heiße Henri«, murmelte er. »Hörst du? Ab sofort nur noch Henri.«
    »Du heißt doch nicht wirklich so?«
    »Mein richtiger Name ist Heinrich. Ich heiße wie mein Vater. Ich trage den Namen eines Mannes, den ich nur viermal im Leben gesehen habe, bei meiner Zeugung, meiner Geburt, meiner Volljährigkeit und an seinem Totenbett. Aber es hat sich gelohnt. Er hat mir ein Haus in einer der schönsten Städte Österreichs vererbt. Eine Villa. Fahr mit mir dorthin, wenn das hier vorbei ist. Graz hat eine gute Oper und ein hervorragendes Theater, ganz abgesehen vom Wein.«
    Dann küsste Henri sie.
    Sie konnte nicht glauben, was sie hier machte. Ihre Hand griff nach seinem Hemd, und ihre Finger krallten sich in den harten Jeansstoff. Er hatte sich länger nicht rasiert. Seine Bartstoppel kratzten sie am Hals. Der leise Schmerz tat gut. Liebe muss wehtun, hatte damals ihre Mutter über Mike gesagt. Nur so kannst du dich spüren.
    Henri Liebler griff nach ihrem Nacken, zog sie zu sich he-ran, murmelte zufrieden: »Endlich, mein Gott, darauf habe ich lange gewartet.«
    Im ersten Moment: Das ist meine biologische Uhr, die Zeitbombe, die tickt.
    Im zweiten Moment: Es wird nie gutgehen.
    Im dritten Moment klopfte ihr Herz im Unterleib. Zweifel und Verlangen. Verlangen und Zweifel — herrlich!
    Plante Henri Liebler sein Leben so genau? Jedenfalls stellte Myriam bereits in der ersten Minute fest, dass das Bett frisch überzogen war.
    Zufall oder Schicksal?
    Zwei Leben zusammenzuwerfen dauert lange. Jedes Jahr doppelt gelebt. Sie redeten bis zum Morgengrauen.
    »Meine Mutter wurde in Prag geboren«, erzählte Henri. »1960 verließ sie die Tschechoslowakei und landete als Zimmermädchen in Graz. Bis sie meinen Vater kennen lernte, der sie nach meiner Geburt sitzen ließ.« Er lachte. »Er hat mich gesehen, fünfundfünfzig Zentimeter lang und dreieinhalb Kilo schwer, und sich aus dem Staub gemacht. Daraufhin ist meine Mutter zu ihren Eltern gezogen, die inzwischen aus Prag nach Frankfurt gekommen waren. Der Rest: allein erziehende Mutter, einziger Sohn, aufgewachsen bei den Großeltern in Bornheim, Polizeischule Wiesbaden. Ich bin also ein wirklicher Europäer. Nicht nur geistig, auch genetisch.«
    »Spätfolge der k. u. k. Monarchie«, antwortete Myriam. »Das ist noch lange nicht Europa.«
    Sie lagen nebeneinander in Henris Bett in einer großen Vierzimmerwohnung mit direktem Blick auf das Senckenbergmuseum. Auch Henris Wohnung hatte etwas von einem Museum an sich.
    »Was ist das?« Myriam deutete auf die seltsame Vitrine, in der kleine Zettel, ein Schnürsenkel, eine leere Zigarettenschachtel,

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