Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
Lebensmittelkarten nicht ausreichen.
    Doch sie stiehlt. Abends schneidet sie sich von jedem Stück Fleisch etwas ab, von jedem Brot und nimmt von zwölf Eiern eines weg. Als die Frau es bemerkt, beschuldigt Frau Wirth natürlich mich, und eine Woche lang erhalte ich weniger zu essen. Offiziell stehen mir pro Woche zwei Kilo Brot und zweihundertfünfzig Gramm Butter zu.
    Seit heute Morgen habe ich Bauchschmerzen und kann kaum laufen. Als ich die Öfen anheize, wird mir schwindelig. Doch ich muss mich beeilen, denn sobald der Mann aus dem Haus ist, ruft sie mich. Dann renne ich mit der Schüssel ins Schlafzimmer, und sie übergibt sich. Es kommt mir vor wie Stunden, bis sie fertig ist, obwohl sie kaum etwas isst.
    Heute ist es besonders schlimm. Ich kann den Geruch kaum ertragen. Mein Bauch schmerzt. Ich halte die Schüssel weit von mir, leere den Inhalt in die Toilette und renne anschließend ins Freie, um frische Luft zu atmen.
    Sie ist zu dünn, um schwanger zu sein.
    Ein großer, runder Bauch hängt an ihrem Körper. Es fällt ihr schwer, sich gerade zu halten, wenn sie aufsteht. Ihr Mann weiß nicht, wie schlecht es ihr geht, und auch nicht, dass sie tagsüber aufsteht, obwohl der Arzt gesagt hat, sie müsse den ganzen Tag liegen.
    »Ich werde wahnsinnig, wenn ich das tue«, hat sie geantwortet. »Ich kann nicht liegen.«
    Weil sie nichts anderes zu tun hat, spielt sie Klavier.
    Ihre Finger verkrampfen sich über der Tastatur, als versuche sie, ihnen Angst einzujagen. Die Tasten sind für sie wie Treppenstufen. Sie schleppt sich hoch. Stufe für Stufe. Ton für Ton.
    Ihre Finger stolpern über die Klaviertasten, während ich die Bilder abstaube. Auch meine Eltern haben über Bilder gesprochen und dass sie diese in das Bergwerk nach Wieliczka bringen müssten. Doch es war zu spät. Erst haben sie meinen Vater erschossen und dann die Bilder aus dem Museum getragen.
    Mein Magen spielt verrückt. Ich stehe auf dem Tisch, muss mich die ganze Zeit strecken, um jede der Glasformen zu polieren, bis sie so glänzen, dass kein Licht mehr nötig ist, um sie zum Leuchten zu bringen. Als ich fertig bin, kommt sie zum Tisch und kontrolliert. Sie wird keinen einzigen Fleck und kein Staubkorn mehr finden. Ich weiß es, und sie weiß es auch.
    Als sie sich umdreht, um zum Schreibtisch zurückzugehen, frage ich: »Darf ich schreiben?«
    »Was willst du?« Sie dreht sich um.
    »Schreiben.«
    »Schreiben? Was willst du denn schreiben?« Sie lacht.
    »Einen Brief.«
    »Wem denn?«
    Mein Herz schlägt so laut und regelmäßig wie die Glocken der Marienkirche. Ich denke an zu Hause. Was hat meine Mutter an dem Morgen gedacht, als ich nicht wiederkam? Hat sie geweint? Suchen sie noch nach mir? Oder bin ich für sie spurlos verschwunden? Denken sie, dass die Straße vor unserem Haus mich einfach verschluckt hat? Dass ich tot bin? Dass ich mich in eine Krähe verwandelt habe und im Abfall wühle vor unserem Haus? Doch wenn sie mich vergessen, wer wird mich dann erlösen? Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Leszek mich vergisst.
    »Mutter«, sage ich laut.
    »Hast du Geld für das Porto?«
    Als ich den Kopf schüttle, zuckt die Frau mit den Schultern.
    »Natürlich nicht, denn es ist verboten, dass du Geld besitzt, verstehst du. Verboten! Es steht überall in der Zeitung. Wenn du in die Stadt gehen dürftest, dann wüsstest du, dass du nur hier in Sicherheit bist. Einen Tag draußen, und du würdest nicht mehr leben. Denn dort wartet die Gestapo auf dich. Da draußen ist der Krieg«, sie zeigte zum Fenster, »und Krieg ist dazu da, um zu überleben. Er stärkt die Menschen, verstehst du. Er macht sie hart. Er wählt aus, wer es wert ist zu leben, und wer nicht.«
    Sie lügt.
    Am Abend, als ich das Essen serviere, sind die Schmerzen in meinem Bauch so groß, dass ich kaum gerade gehen kann. Als ich mit dem Tablett in der Hand die Tür öffne, rutscht es mir aus den Händen.
    Sie beginnt zu schreien. Ihre Stimme klingt wie das Quietschen der Bremsen, wenn der Zug auf offener Strecke hielt, um die Toten hinauszuwerfen.
    Dann steht sie auf und schlägt mir ins Gesicht. Während ihr Mann versucht, sie zu beruhigen, beschimpft sie mich.
    Die Schmerzen in meinem Unterleib sind inzwischen so stark, dass ich kaum gerade gehen kann. Als ich zur Toilette gehe, sehe ich, dass ich blute. Vielleicht sterbe ich. Irgendwann vor dem Krieg habe ich eine Geschichte gelesen von Seefahrern, die geblutet haben, weil sie Hunger hatten. Vielleicht blute ich

Weitere Kostenlose Bücher