Wintermörder - Roman
gezeigt, sich verschlingen zu lassen.
Wie würden die Winklers reagieren? Denise Winkler saß zu Hause, wurde verrückt bei dem Gedanken an ihren Sohn, und die Staatsanwältin lungerte in Kneipen herum, trieb es in aller Öffentlichkeit mit dem Hauptkommissar.
Jost griff nach seinem Handy und suchte die neue Nummer, unter der der Entführer ihn zuletzt angerufen hatte. Er hatte bereits am Abend zuvor vergeblich versucht, den Mann zu erreichen.
Kein Empfang.
Ihm blieb nur die erste Nummer. Dieses Mädchen, das abgenommen hatte. Wer war sie? War die Nummer falsch gewesen? Hatte er sie falsch notiert?
Er wählte erneut.
Es klingelte.
Einmal … zweimal … dreimal. Endlich war nach dem vierten Klingeln ein verschlafenes »Hallo« zu hören.
»Mit wem spreche ich?«
Eine unverständliche Antwort, doch unverkennbar wieder die Stimme eines jungen Mädchens.
»Nicht auflegen«, rief er. »Moment. Just a moment.« Intuitiv wechselte er ins Englische. »I am looking for Frederik.«
»I don’t know.« Es klang verschlafen, und gleich darauf vernahm er ein Gähnen.
»Frederik?«
»No.«
»Where you are?«
»Here is Cracow in Poland.«
»Your Handy… what’s the number?«
Klick.
Das Mädchen hatte das Gespräch beendet.
Krakau.
War Frederik in Krakau?
Er konnte das zweite Foto nicht länger zurückhalten. Er machte sich schuldig. Schuldig am Leben eines Kindes. Was war nur in ihn gefahren? Warum hatte er die Botschaft nicht weitergegeben? Erst hatte er gewartet, dann die Angst, man würde herausfinden, dass er dem Entführer seine Handynummer gegeben hatte.
Das schlechte Gewissen, seine Unentschiedenheit, das Warten. Tausend Ameisen kribbelten über seinen nackten Körper, und er begann unter der Decke zu schwitzen. Der Schweiß rann über seinen Körper. Er versuchte, ihn wegzuwischen. Doch aus den Ameisen wurden Nacktschnecken, die Schleimspuren hinterließen. Die Nacktschnecken waren auf dem Weg zum Unterleib.
Schwer atmend schob er die Decke zur Seite und starrte in den Spiegel über dem Bett. Ein Requisit der Eitelkeit, das endgültig ausgedient hatte. Wieder fuhr seine Hand über den Körper bis hinunter zwischen die Beine, um den Schweiß wegzuwischen. Dann suchte er nach der Flasche. Sein Mund war trocken. Doch die Whiskyflasche war leer. Sein Blick fiel auf die Uhr. Es war zehn nach neun.
Zum Teufel, er hatte verschlafen. Verschlafen und vergessen.
Die Redaktionssitzung um halb zehn Uhr und die Beerdigung am Nachmittag.
Schwerfällig stieg er aus dem Bett. Der Kleiderschrank stand offen. Ein Bataillon schwarzer Hosen und schwarzer Hemden. Ein Griff genügte.
Er schlurfte ins Bad, ließ kaltes Wasser laufen, um endgültig zu sich zu kommen.
Sein Mund war noch immer trocken. Wo waren die Unterlagen, die die Neuberger recherchiert hatte?
»Du kannst mich Ramona nennen«, hatte sie gesagt. Dennoch hatte er auch ihr das Foto verschwiegen.
22
Als Myriam die Küche betrat, sah sie ihren Vater zwischen Sarah und einer Frau mit roten Haaren sitzen. Er brauchte seine ganze Konzentration, um ein Ei zu essen. Die Frau stand auf, um sie zu begrüßen. Verwirrt ließ Myriam drei Küsse auf die Wange über sich ergehen. Sie schaute aus dem Fenster in den Garten, wo sich Vera in ihrem rosaAnzug auf den Rücken fallen ließ, um mit ausgebreiteten Armen Engelsflügel in den Schnee zu malen.
Sarah klopfte energisch ans Fenster, schüttelte den Kopf und gab dann Myriam ein Zeichen, ihr in den Flur zu folgen.
»Heute Morgen um halb sieben ist sie angekommen«, flüsterte sie. »Ich habe sie am Busbahnhof abgeholt. Ihr Name ist Halina.«
»Wie hat er reagiert?«
»Ich weiß nicht, ob er verstanden hat, dass sie bei ihm einzieht.«
»Hast du es nicht erklärt?«
»Doch, aber er hat sie nur gefragt, ob sie etwas gegessen hat.«
Sarahs Flüstern erschien Myriam wie ein Gerücht, das auf unheimliche Weise sichtbar wurde. Die Buchstaben schwebten für jeden lesbar in der Luft. Sie kehrten in die Küche zurück, wo Halina dabei war, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Sie war nicht größer als ein Meter fünfundfünfzig. Ihre kurzen Haare waren rot gefärbt. Sie war vielleicht Ende vierzig, trug knappe Jeans, einen rosafarbenen Pullover und begann sofort, auf Myriam polnisch einzureden. Das Gold der Schneidezähne blitzte im Licht der Küchenlampe auf. Myriam wurde bewusst, dass sie dringend wieder einmal zum Zahnarzt musste.
Höflich fragte sie nach der Reise: »Hatten Sie eine gute Fahrt?«
Sie
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