Wintermörder - Roman
wiederholte noch einmal langsamer: »Gute Fahrt?«
Dann: »Reise gut?«
»Acht.« Die Frau, die Halina hieß, zeigte die Zeit mit den Fingern. Die Nägel waren in demselben Rot lackiert wie das Haar.»Acht Stunden. Viel Schnee. Unfall.«
Sie lächelte Myriam geradezu liebevoll an: »Tee? Ja?«
Myriam nickte, hatte plötzlich Hunger und beobachtete mit einer behaglichen Mischung aus schlechtem Gewissen und Entspanntheit, wie die fremde Frau sich schnell und selbstsicher in der Küche bewegte. Ein polnischer Derwisch.
Wenige Minuten später stand eine heiße Tasse Tee und ein Brot vor ihr. Es tat gut, verwöhnt zu werden.
»Haben Sie Kinder?« Myriam ging zu vollständigen und grammatikalisch korrekten Sätzen über, erschrak jedoch, als sie merkte, dass sie zu laut sprach. Halina war nicht schwerhörig.
Sie wiederholte daher leiser: »Kinder?«
Halina griff nach ihrer Handtasche und zog Fotos hervor: »Sohn.«
Der Mann war Ende zwanzig, hatte schwarze Haare und bewegte sich in derselben Gewichtsklasse wie Henri.
Das zweite Foto: »Tochter.«
Auch sie hatte schwarze Haare, vermutlich waren solche auch unter Halinas Rot zu finden.
»Wo leben die beiden?«
Halina goss den Tee ein.»Milano.«
»Mailand?«
»Ja. Dort Arbeit.«
»Nicht verheiratet?«
»Nein.«
»Ich auch nicht«, antwortete Myriam.
Halina schüttelte bedenklich den Kopf. »Nicht gut, kein Mann, keine Kinder.«
»Ein Kind?« Myriam schüttelte den Kopf. »Um Gottes Willen. Keine Zeit.«
»Ohne Kinder«, antwortete Halina, »Leben zu lang.«
Sarah führte ihren Vater, der sich auf seinen Stock stützte, in die Küche. »Was kochst du heute? Kochen? Heute?«, wandte sich Sarah an Halina.
»Zupa.«
Suppe. Das verstand auch Myriam.
»Woher kommen Sie?«
»Nowy Targ, nicht weit von Krakau.«
»Sie kennen Krakau?«, fragte sie erschrocken und merkte, dass die Stadt ihr bisher wie eine Phantasiewelt erschienen war. Irgendwie irreal.
»Krakau?« Halinas Gesicht hellte sich auf. »Schöne Stadt.«
»Kazimierz?«
Halina schüttelte angewidert den Kopf. »Alt. Kaputt.«
»Wurde es im Krieg zerstört?«
»Nein. Sozialismus. Staat.« Halina strich ihrem Vater über den Kopf. In dieser Bewegung lag etwas Vertrautes, das Myriam ihrem Vater gegenüber nie empfunden hatte. Er war vielmehr immer von ihr entfernt gewesen. Ihr Verhältnis hatte die letzten zwanzig Jahre aus einer Konversation bestanden, die allenfalls alltagstauglich war, mehr nicht. Und jetzt war es zu spät.
»Haare.« Sie machte eine Handbewegung, die erklärte, dass sie sie waschen wollte.
Sarah nickte mit einer übertriebenen Geschäftigkeit, die Myriam auf die Nerven ging. »Ja, das ist gut. Es ist wirklich nötig. Aber bitte sofort föhnen, damit er sich nicht erkältet.«
Innerhalb von wenigen Stunden wurde ihr Vater zu einem Kind herabgewürdigt, über das eine europäische Kommission hygienische Entscheidungen fällte, als ginge es um die Vogelgrippe.
Die Würde von Haaren sollte unantastbar sein.
»Haare waschen, ja?«, fragte Halina, und Myriams Vater schaute ihr zunächst verwirrt ins Gesicht. Doch als sie seinen Arm nahm und ihn anstrahlte, erhob er sich und verließ auf ihren Arm gestützt die Küche.
Schweigend saß Myriam neben Sarah am Küchentisch und blätterte in der Zeitung.
Die Vergangenheit schlägt zurück
Die heutige Schlagzeile. Der Leitartikel über Oskar Winkler und seine Verstrickungen im Nationalsozialismus. Alle Frankfurter Zeitungen hatten sich erneut auf das Thema gestürzt.
Sarah war damit beschäftigt, mit Hingabe eine Einkaufsliste zu kontrollieren, als vollzöge sie ein religiöses Ritual.
»Weißt du, was unsere Großeltern im Krieg gemacht haben?«, fragte Myriam.
»Was?« Irritiert blickte Sarah auf.
»Waren unsere Großeltern Nazis?«
Sarah zuckte die Schultern. »Spinnst du?«
»War Vater in der Hitlerjugend?«
Sarah begann zu lachen. »Ich glaube, du hast schlecht geträumt.«
»Hast du dich das nie gefragt? Wolltest du nie etwas über diese Zeit wissen?«
»Du etwa?« Sarah ging jetzt in Verteidigungsposition über.
»Also, warum hast du nicht gefragt?«
Sarah widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Zettel.
»Unsere Eltern waren zu jung«, meinte sie schließlich.
»Hast du je Fotos aus der Kriegszeit bei uns im Haus gesehen?«
Sarah zuckte mit den Schultern.
»Henriette Winkler wollte die Wahrheit mit ins Grab nehmen.«
»Henriette Winkler hatte etwas zu verbergen. Ich konnte die Familie noch nie
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