Wintermörder - Roman
in den Tod wollte er nach der Trennung versorgt sein. Das meinte der Treueschwur. Dass der eine bis zum Lebensende für den anderen bezahlen muss. In seinem Fall Patrizia, die bei der Börse arbeitete und dort Monat für Monat ein Vermögen in Aktien und Fonds angehäuft hatte, das bei der Scheidung gerecht mit ihm geteilt worden war. Einen Teil des Geldes hatte er gespart, für den Fall, dass er seinen Job verlor, dass die Zeiten schlechter wurden, dass alles den Bach hinunterging.
Den anderen Teil hatte er verschwendet. Für die Freiheit und schottischen Whisky. Direkt abgefüllt in der privaten Brennerei Glenfarclas in den schneebedeckten Bergen von Speyside im schottischen Hochland. Früher hatte er ihn persönlich dort abgeholt. Jetzt bestellte er ihn über das Internet für vierundfünfzig Euro einundzwanzig pro Liter.
Das Kind durfte nicht tot sein, wie Tobler vermutete.
Sonst wäre seine Investition verloren.
25
Myriam hatte Henri mit Absicht nichts von ihrem Plan erzählt. Es war allein ihre Entscheidung. Sie saß in der Bibliothek des juristischen Seminars, vertieft in Paragraphen und den dazugehörigen Kommentaren, und fühlte sich um Jahre zurückversetzt in die Zeit, als sie noch voller Idealismus gewesen war. Thomas hatte ihre Leidenschaft für diesen Beruf nie verstanden, nie begriffen, dass es eine spannende Angelegenheit war, zwischen den verschiedensten Interessen abzuwägen, um die gerechte Lösung zu finden.
Ob Henri verstand, was sie antrieb? Sie sollte eine Liste von Prüfungen für ihn aufstellen. Es genügte nicht, dass er in der ersten Nacht bestanden hatte. In jedem Fall war er nicht mehr als eine Eskapade. Sie würde ihren Kontakt auf das Berufliche beschränken. Sex mit einem Kollegen war kompliziert. Auch wenn er gut war. Besser als mit Thomas jedenfalls. Dessen Praktiken waren vergleichbar mit der Methode, wie er seinen BMW ein- und ausparkte. Nicht nur einmal hatte sie denselben Ausdruck auf seinem Gesicht entdeckt, egal, ob er einen Orgasmus abschloss oder den Wagen nach einem erfolgreichen Wendemanöver zum Stehen brachte.
Sie widmete sich wieder den Büchern. Die dünnen Seiten des Strafgesetzbuches knisterten. Sie hatten Beweise genug, um den Entführer von Frederik und Mörder von Henriette Winkler zu verurteilen, doch dazu mussten sie ihn erst einmal finden. Und Henriette Winkler hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Warum hatte sie die Dokumente nicht vernichtet? Warum sich mit ihnen begraben lassen?
Der Täter wollte, dass sie ein Verbrechen aufklärten, das in der Vergangenheit lag. Denn dies war der Schlüssel zur Gegenwart. Doch diese Erkenntnis half Myriam keinen Schritt weiter.
Am Anfang lagen Geschäfte und vermutlich die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, was nichts anderes als Arbeitssklaven hieß. Ein Kind, von dem sie überhaupt nicht wussten, ob es existierte, nur dass Henriette Winkler den Notar mit Nachforschungen beauftragt hatte.
Dann gab es versiegelte Unterlagen, gestohlene Bilder, ein entführtes Kind, eine verschwundene Frau, und natürlich die Briefe. Aber wo war die Verbindung zu ihrem Tod? Worin war sie schuldig geworden, dass sie in Eiseskälte erfrieren musste? Und wenn der Mann sein Zitat ernst meinte, hatte Fischer Recht. Dann war das Unrecht in Henriette Winklers
Haus geschehen.
Nur welche Schuld?
Woran hatte sie Schuld? Dass sie dafür sterben musste? Dass ihr Enkel entführt wurde? Ein Kind. Wieder ein Kind.
Hatte ein ehemaliger Zwangsarbeiter die Briefe geschrieben?
Oder diese Sophia Fuchs?
Ging es darin um das Kind?
Warum jetzt? Warum nicht schon früher?
Warum interessierte sich Henriette Winkler zu diesem Zeitpunkt für das Kind?
Und wenn der Entführer dieses Kind war?
Es ging nicht nur um Geschäfte. Diese ganzen Projekte, die Henri aufgezählt hatte. Damals war Krieg, und jeder wollte überleben. Oskar Winkler war nur ein kleiner Fisch gewesen. Er war nicht Speer, er war nicht Hans Frank. Er war weder bei der SS noch bei der SA oder der Gestapo. Er war nur deren Parasit gewesen.
Es ging hier um etwas anderes.
Um Rache, um Vergeltung, um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Die Büchse der Pandora. Henriette Winkler hatte sie geschlossen gehalten und sechzig Jahre mit sich herumgeschleppt, und nun kam jemand und öffnete sie vor den Augen der Welt. Die Vergangenheit entwickelte ihre eigene Dynamik.
Die Lösung war nur an einem Ort zu finden.
Auf dem Hauptfriedhof.
In zwei Metern Tiefe.
Im Grab von Henriette
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